Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Wissenskapital, wie das monetäre, spezifische Krisen, in denen seine weitere Verwertbarkeitin Frage gestellt scheint – die Lösung der Krise besteht in der Regel in dem, was die jüngere Wissenssoziologie einen Paradigmenwechsel nennt. In dessen Verlauf werden ältere kognitive Werte vernichtet, indessen der Betrieb unter neuen konzeptuellen Rahmenbedingungen intensiver denn je weitergeht.
Analoge Beobachtungen lassen sich für die jüngere Kunstgeschichte anstellen. Auch im Bereich der künstlerischen Hervorbringungen hat sich spätestens vom frühen 19. Jahrhundert an (nach Vorbereitungen, die bis ins 15. Jahrhundert zuückreichen) ein Übergang von der schatzförmigen zur kapitalförmigen Sammlung vollzogen, der vor allem an der dynamischen Geschichte des Museums und seines Funktionswandels ablesbar ist. Von diesen Vorgängen sind wir durch die florierende Wissenschaft der Museologie und durch die jüngeren kuratorischen Studien unterrichtet – Disziplinen, die sich während des letzten halben Jahrhunderts als Volksund Weltwirtschaftlehre des Kunstbetriebs etabliert haben, auch wenn die kuratorische Praxis nur selten ihre neuen theoretischen Grundlagen zur Kenntnis nimmt. Wie freilich Bankangestellte vorzügliche Arbeit leisten können, ohne die allgemeine Logik des Bankwesens zu beherrschen, sind die Kuratoren der zeitgenössischen Kunst- und Kulturszene imstande, sich nützlich zu machen, ohne über die Bewegung des Kunstkapitals im großen nachzudenken.
Vor allem den Untersuchungen von Boris Groys ist es zu verdanken, daß man den Eintritt des Kunstsystems in seine endogene Kapitalisierung begrifflich präzise nachvollziehen kann. 42 Der Akzent auf dem endogenen Charakter der Vorgänge hebt hervor, daß es hier nicht so sehr um die äußere Wechselwirkung von Geld und Kunst auf den Kunstmärkten geht, auch nicht um den sogenannten Warencharakter des Kunstwerks, dem in der nahezu ausgestorbenen marxistischen Kunstkritik eine Schlüsselrolle zukam. In Wahrheit hat sich das Kunstsystem im ganzen intern zu einem kapitalanalogen Geschehen gewandelt, mit entsprechenden Formen des Zusammenspiels von Unternehmertum und Bankfunktion. In diesem Prozeß bilden Resultate des bisherigen Kunstschaffens einen Kapitalstock, aus dem die aktuellen Kunstproduzenten Anleihen aufnehmen, um mittels ihrer neue, hinreichend verschiedene Werke zu gestalten. Groys hat den Kapitalstock der akkumulierten Kunstobjekte als »Archiv« beschrieben – wobei der Ausdruck, anders als bei Foucault, ironischerweise nicht die staubgraue, tote Seite des Speichers, sondern seine lebendig vorantreibenden, auswahlsteuernden Tendenzen bezeichnet. Als Träger des »Archivs« kommt in letzter Instanz nur der Staat in seiner Eigenschaft als Kulturgarant in Frage oder besser die imaginäre Internationale der Staaten (indessen die privaten Sammlungen ihren relativen Wert allein durch den Bezug auf die öffentlichen Sammlungen und deren virtuelle Synthese im »Archiv« behaupten können).
Das Archiv ist die intelligente Form des imaginären Museums. Während André Malraux mit seiner bekannten Prägung bei einer stumpfen Idee des immer präsenten globalen Schatzes stehenblieb, hat Groys im Archiv, dem Inbegriff des modernisierten hochkulturellen Kunst- und Kulturspeichers, die Funktionen eines sich selbst verwertenden Kapitals ausgemacht. Damit wird der Grund dafür benannt, warum das aktuelle Kunstleben nur noch als Mitwirkung der Künstler und Kunstmanager an der rastlosen erweiterten Reproduktion des Archivs intelligibel zu machen ist. Tatsächlich prägt das stets im Hintergrund präsente Archiv der laufenden Kunstproduktion den Zwang auf, unaufhörlich Erweiterungen des Kunstbegriffs vorzunehmen. Deren Ergebnisse werden von den Agenten des Archivs evaluiertund bei ausreichenden Differenzwerten gegenüber dem gespeicherten Material der Sammlung einverleibt. 43 Auf diese Weise konnte auch das, was bisher das Gegenteil von Kunst war, ins Sanktuarium der Kunst vordringen. Seit dieses System die Märkte durchdrungen hat, bedeutet die populäre Aussage, eine Sache sei »museumsreif« geworden, das Gegenteil dessen, was sie vormals beabsichtigte. Was den Weg ins Museum, allgemeiner: ins Archiv, geschafft hat, ist von da an für die ewige Wiederkehr des Neuen gut. Doch wie jeder akkumulierte Wertstock ist auch der des Archivs dem Risiko der Abwertung oder Entwertung ausgesetzt. Vor allem das Auftauchen neuer Kunstgattungen infolge der Entwicklung neuer
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