Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ihren Sitz im Realen haben: in einem konkreten Individuum. Ein solches darf natürlich nicht als gewöhnlicher Zeitgenosse angesehen werden, vielmehr als exemplarischer Mensch, der, indem er denkt und zürnt, die gerechte Affektlage der Menschheit während der Ära der Klassengesellschaften in sich konzentriert. In ihm ist der Thymos ausreichend erregt, um eine neue Weltordnung fordern zu dürfen. Marx wäre aus dieser Sicht nicht bloß der Philoktet der modernen Philosophie, sosehr manche Züge seiner Existenz an den übelriechenden Trojakämpfer erinnern, dessen unleidliches Geschrei ihn seinen Gefährten auf hoher See unerträglichmachte, bis sie ihn mitsamt dem Bogen des Achilles auf der Insel Lemnos aussetzten. Er stellte zugleich einen westlichen Mahatma dar, eine umfassende Seele, die noch im Zürnen übermenschliche Größe zeigte. Seiner radikal parteilichen Intelligenz wäre die Aufgabe zugefallen, als Speichermedium für die gelehrte Unzufriedenheit eines Weltalters zu fungieren.
Wir werden im folgenden zeigen, daß der politische Agent »Partei« auf eine für ihn selbst kaum durchschaubare Weise von der ideologischen Figur des Führer-Vordenkers abhängig war – und zwar in einem solchen Grade, daß die Partei selbst nur als eine monologische Maschine funktionierte, in der die Selbstgespräche des Führers auf breiterer Basis fortgesetzt wurden. Der Kopf der revolutionären Bewegung mußte sein Wissen und Wollen als theoretischer und moralischer Monarch in den Parteikörper ausstrahlen, um diesen insgesamt, oder zumindest dessen Zentralkomitee, in ein kollektivmonarchisches »Organ« zu verwandeln. Die diskutierenden Episoden der kommunistischen Bewegung waren stets bloße Zugaben zum unerschütterlich monologischen Ideal. Wir haben weiter oben bemerkt, wie der exemplarische militante Mensch im Zeitalter des revolutionären Advents seiner Existenz die Form einer Zornsammelstelle aufprägte. Ziehen wir aus dieser Beobachtung die Konsequenzen, so wird begreiflich, daß das entschlossene »Subjekt der Revolution« sich wie ein Bankier zu verhalten hatte, dem die Leitung eines global operierenden Finanzinstituts übertragen wurde. Nur so konnte die revolutionäre Subjektivität den Glauben fassen, sie sei zum Drehpunkt des Weltgeschehens auserkoren: In dieser Bank werden nicht nur die angehäuften Empörungen, Leidenserinnerungen und Zornimpulse der Vergangenheit zu einer aktiven Wert- und Energiemasse komprimiert; von nun an werden diese revolutionären Intensitäten auch für die Reinvestition im Realen zur Verfügung gestellt. Die Zukunft würde dann substantiell identisch mit der Renditeaus den weitsichtig angelegten Summen an Zorn und Empörung.
Genau diese sammelnden und wiederverausgabenden Tätigkeiten mußten bei der Schaffung eines größeren Militanzkörpers auf einer erweiterten Skala repräsentiert werden. Sobald der Transfer der radikalen Subjektivität vom Führer auf die radikalen Stäbe der Partei (und neben dieser auf die neuen Geheimpolizeien) vollzogen wäre, würde ein politischer Organismus völlig neuen Typs ins Dasein treten: jene Bank des Zorns, die mit den Einlagen ihrer Kunden geschichtliche Geschäfte treiben sollte. Dank ihres Auftritts auf dem Leidenschaften-Markt verwandelt sich der kollektive Zorn von einem bloßen Aggregat psychisch-politischer Regungen in ein Verwertung forderndes Kapital.
Zum Auftauchen des nicht-monetären Bankwesens
Wir haben dargelegt, wie das Konzept der anarchistischen Zerstörungszelle im 19. Jahrhundert dem Muster der populären russsischen Verbrecherbande nachgebildet wurde. Naturgemäß durfte dieses Vorbild vor dem Publikum der Anarchisten nicht allzu offen eingestanden werden. So verwundert es nicht, daß man in Bakunins Schriften zur Organisation der anarchistischen Bewegung parareligiösen Bemäntelungen des revolutionär-kriminellen Kerngeschäfts begegnet, vor allem in den Darlegungen über Prinzipien und Organisation einer internationalen revolutionär-sozialistischen Geheimgesellschaft von 1866 und in dem Programm und Reglement der Geheimorganisation der internationalen Bruderschaft und der internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie von 1868. Beim Studium dieser Dokumente fällt die Verwandtschaft zu den Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts und eo ipso zu den christlichen Orden auf: Hier scheint sich ein Rosenkreuzertum mittels Bombenauf seine historische Mission einzuschwören. Es war daher kein bloßer Zufall, wenn
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