Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ausgelösten Vorgängen ihre beunruhigende Bedeutsamkeit gibt, ist die Leichtigkeit, mit der es den Führern der sowjetischen KP gelang, bei zahllosen Teilnehmern an dem bösen Spiel jenen Rausch der Mißgunst zu induzieren, der seine Träger geeignet macht, als Helfer bei der Auslöschung von abgewerteten »Klassen« zu fungieren. Über die Motive von Hitlers willigen Helfern hat die Forschung reichliche Aufschlüsse erbracht; was Stalins Helferarmeen angeht, halten sie sich in den Katakomben der Geschichte verborgen. Tatsächlich zeigte sich bei den genozidalen Exzessen im Namen der Klasse, in welchem Maß das von Soziologen beschworene »soziale Band« immer auch aus dem Haß gewoben ist, der die Benachteiligten an die scheinbar oder wirklich Bevorzugten bindet. Wo der Neid das Gewand der sozialen Gerechtigkeit überstreift, kommt eine Lust an der Herabsetzung zum Zuge, die schon die Hälfte der Vernichtung ist.
Von dieser Besudelung – die selbst durch die Moskauer Prozesse kaum noch zu übertreffen war – hätte sich das bolschewistische System nie mehr erholt, wäre nicht der Stalinismus durch den von Hitler in die Sowjetunion getragenen Krieg gerettet worden. Die Idealisierungswut seiner Agenten und Sympathisanten hätte niemals ausgereicht, die Verdunkelungen des sowjetischen Experiments im ganzen zu kompensieren, hätte im Lande eine angemessene und rechtzeitige Aufklärung über die Vorgänge stattfinden können. Der Anti-Hitler-Imperativ jener Jahre sorgte dafür, daß in bezug auf die Greuel des Stalinismus das Interesse an Nicht-Wahrnehmung die Oberhand behielt, gerade auch bei westlichen Parteigängern und Sympathisanten, die auf ihrer gesinnungsstarken Unberührbarkeit durch Tatsachen beharrten. Bei zahlreichen Angehörigen der Neuen Linken im Westen sollte die Wunschnebelphase bis zum Solschenizyn-Schock von 1974 anhalten. Erst mit dem Erscheinen des Archipel Gulag und dank der Schriften der nouveaux philosophes setzte sich eine veränderte Optik durch, obschon sich manche Wortführer der ewigen Militanz auchdann noch damit begnügten, ihren Ignoranzschutz zu modernisieren.
Nach dem 22. Juni 1941 wurde in der militärischen Abwehrschlacht der Russen gegen die deutschen Invasoren noch einmal unter Beweis gestellt, daß durch die Provokation des Nationalthymos die mächtigsten kämpferisch-kooperativen Energien in einem angegriffenen Kollektiv freizusetzen sind, selbst wenn dieses an der inneren Front soeben die tiefsten Erniedrigungen erlitten hat – ja vielleicht gerade dann, sofern der Krieg zwischen Nationen eine gewisse Erholung von der ideologischen Infamie mit sich zu bringen vermag. Daher war es zunächst stimmig, wenn Stalins Propaganda den Kampf gegen Hitlers Armeen als den Großen Vaterländischen Krieg bezeichnete – in bewußter Analogie zum »Vaterländischen Krieg« der Russen 1812 gegen Napoleon. Die bittere Ironie der Geschichte enthüllte sich erst, als der Heroismus und die Leidensbereitschaft des russischen Volkes und seiner Allianzvölker nach der gewonnenen Schlacht auf das Konto des »Antifaschismus« verbucht wurden.
Da sich der Kommunismus als Mobilisierungsmacht, wie Boris Groys dargelegt hat, von vorneherein ausschließlich im Medium der Sprache vollzog, 74 nimmt es nicht wunder, wenn sich auch in diesem Punkt seine Erfolge vor allem in der Durchsetzung einer strategischen
Sprachregelung zeigten. Aus gut verständlichen Gründen reichten diese weit über die Sphäre sowjetischer Diktate hinaus. Die ingeniöse Selbstdarstellung
des Linksfaschismus als Antifaschismus wurde im gesamten Einflußbereich des Stalinismus und darüber hinaus in der Neuen Linken zum vorherrschenden
Sprachspiel der Nachkriegszeit – mit Langzeitwirkungen, die sich bei dissidenten Subkulturen des Westens, namentlich in Frankreich und Italien, bis in
die Gegenwart verfolgen lassen. Man sagt nicht zuviel, wenn man die Flucht der radikalen Linken inden »Antifaschismus« als das erfolgreichste sprachpolitische Manöver des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Daß es die Quelle hochwillkommener Konfusionen war und blieb, versteht sich aus den Prämissen.
Die Fortführung des Spiels durch die westliche Linke nach 1945 geschah vor allem aus dem Bedürfnis nach einer umfassenden Selbstamnestie. Diesem Imperativ blieben die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit und die Suche nach den »Quellen« des Faschismus untergeordnet – wobei der Rückgang auf Lenins initialen Beitrag von Anfang an durch
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