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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Herausgabe ihrer Lebensgrundlagen wurde als Sabotage bezeichnet und entsprechend geahndet. Die ominöse Kollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin verfolgte den Zweck, die Konfiszierung der Ernten zu vereinfachen, indem man bei der Produktion begann.
    Die »Dekulakisierung« der frühen dreißiger Jahre, die allein im Hungerwinter 1932-1933 bis zu acht Millionen Menschen das Leben gekostet hat, bedeutete eine psychopolitische Zäsur im Geschäftsgebaren der Zornbankleitung. Zu ihrer Durchführung wurden nicht nur jene Affekte herangezogen, die am Beginn der Umwälzungen von 1917 eine Rolle gespielt hatten: der antizaristische Haß in breiten Schichten der Bevölkerung, der Arbeiterzorn gegen die marginale Bourgeoisie, der moralische Idealismus der Gebildeten und der patriotische Affekt der bäuerlichen Menge. In Stalins Kulakenpolitik ab 1930, die in exterministischen Deportationen und genozidalen Aushungerungsbeschlüssen gipfelte, setzten sich die dunklen Seiten des populären Thymos, das Ressentiment, der Neid, das Erniedrigungsbedürfnis in bezug auf scheinbar oder wirklich Bessergestellte, als maßgebliche Triebkräfte in der Geschäftsordnung des revolutionären Unternehmens durch.
    Wenn man berechtigt ist, die Geschichte der Ereignisse in der Sowjetunion als Drama von der verlorenen Unschuld derRevolution zu erzählen, so markiert die Haßlenkung gegen die größeren Bauern, ab 1934 auch gegen die sogenannten mittleren (die bis zu zwei Kühen besaßen), in der stalinisierten UdSSR den Übergang zu einer offenen Psychopolitik der schmutzigen Energien. In ihrem Verlauf wurde die »Klasse« der Halbverhungerten gegen die »Klasse« der sich so eben noch Ernährenden ins Gefecht geschickt – unter dem Vorwand, dies sei die aktuellste Form des revolutionären Kampfes im Vaterland des Weltproletariats. Die Rechtfertigung hierzu lieferte Stalin eigenhändig, indem er, auf dem Hexenbesen einsamer Erleuchtung reitend, eine neue »Klassenanalyse« beibrachte: Dieser zufolge durfte im Namen der marxistischen Klassiker zur »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« aufgerufen werden. Als Kulak oder »Großbauer« galt, wer genug erzeugte, um die eigene Familie und einige Hilfsarbeiter zu ernähren – mit gelegentlichen Überschüssen, die auf den Wochenmärkten oder im städtischen Handel zum Verkauf kommen konnten. Dieses Unrecht an den werktätigen Massen durfte in Zukunft nicht ungeahndet bleiben. Um es zu rächen, wurde demonstriert, was »Terrorismus in einem Land« 71 zu leisten vermag.
    Die unbegriffene Lektion der Vorgänge verbarg sich in der willkürlichen Ausweitung des Konzepts »Klassenkampf«. Plötzlich war keine Rede mehr davon, die Bourgeoisieepoche habe die Klassengegensätze zu der klaren Opposition von Bourgeoisie und Proletariat »vereinfacht«, wie das Kommunistische Manifest statuierte. Nachdem Stalin die Kulaken in den Rang einer »Klasse« erhoben und dieser das Prädikat »konterrevolutionär« aufgeprägt hatte, war diese, stellvertretend für die kaum vorhandene und schnell ausgelöschte Bourgeoisie, über Nacht zur Liquidierung freigegeben. Von da an war für alle, die es wissen wollten, evident, daß mitjeder Art von »Klassenanalyse« virtuell die Demarkation der Grenzen verbunden ist, an denen die Liquidanten den Liquidanden gegenüberstehen. Auch Mao Zedong rückte mit einer neuen »Klassenanalyse« heraus, als er bei der Großen Kulturrevolution die chinesische Jugend gegen die »Klasse« der Alten aufhetzte.
    Hier ist wohlgemerkt nicht nur von terminologischen Finessen die Rede. Wer nach Stalin und Mao weiter von Klassen spricht, macht eine Aussage über die Täter- und die Opfergruppe in einem potentiellen oder aktuellen (Klassen-)Genozid. »Klasse« ist, wie klügere Marxisten seit jeher wußten, nur an der Oberfläche ein beschreibender Begriff der Soziologie. In Wahrheit kommt ihm hauptsächlich eine strategische Realität zu, da sich sein Inhalt allein durch die Formierung eines kämpfenden Kollektivs (einer konfessionell oder ideologisch formierten Maximal-Stress-Kooperations-Einheit 72 ) materialisiert. Wer ihn affirmativ, und eo ipso performativ, benutzt, trifft letztlich eine Aussage darüber, wer wen unter welchem Vorwand auszulöschen berechtigt sein soll. 73 Noch hat das Publikum nicht zur Kenntnis genommen, wieweit der Klassismus vor dem Rassismus rangiert, was die Freisetzung genozidaler Energien im 20. Jahrhundert anging.
    Was den von Stalins Improvisationen

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