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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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des »Sozialismus in einem Land« bot nicht bloß eine Notlösung angesichts der beharrlichen Verzögerung der Weltrevolution. Es enthielt das Zugeständnis, daß die dringend benötigten thymotischenRerserven nur aus einem akut bedrohten Kampfstresskollektiv zu schöpfen waren.
    Gewiß besitzt der Kampf gegen den Nationalfeind seit jeher einen hohen Plausibilitätsvorteil. Er erscheint im Ernstfall nach allen historischen Erfahrungen gleichsam natürlich und unvermeidlich. Dies wußte niemand besser als Karl Marx, wenn er im Blick auf das politische Abenteurertum der Pariser Kommunarden von 1871 (die mitten im Krieg gegen Preußen einen Putsch gegen die bürgerliche Regierung Frankreichs unternahmen) streng bemerkte:
    »Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, wo der Feind fast schon an die Tore von Paris pocht, wäre eine verzweifelte Torheit. Die französischen Arbeiter müssen ihre Pflicht als Bürger tun …« 70
    Daneben kann auch ein Bürgerkrieg äußerste Motivationen freisetzen, falls die Front gegen die inneren Feinde moralisch klar genug markiert ist. Da den Bolschewisten nach der Beendigung des Bürgerkrieges ab 1921 kein hinreichend externalisierbarer Feind mehr zur Verfügung stand, mußten sie ihre thymotischen Kriegsanleihen intern umschulden und eine neue Front aus dem Geist der puren Mobilisation aufmachen.
    Mit dieser Operation begann das dunkelste Kapitel in der schattenreichen Geschichte revolutionärer Zorngeschäfte. Wir sprechen von der mutwilligen Umlenkung des »Massenzorns« gegen die wohlhabenderen Bauern der Sowjetunion, namentlich die der Ukraine, die unter dem Namen Kulaken eine traurige Berühmtheit erlangten. Sie bilden noch immer das größte Genozidopferkollektiv der Menschheitsgeschichte – zugleich eine Gruppe von Opfern, die sich gegen das Vergessen des ihnen angetanen Unrechts am wenigsten wehren kann.
    Der marxistischen Doktrin zufolge war die sowjetische Führung gehalten, in der Bauernschaft des Landes eine produktive, dem Proletariat partiell analoge Klasse zu sehen. Da sie einem prä-industriellen Universum angehörte, bildete sie jedoch eine Kategorie von Produzenten der falschen Art, von denen feststand, daß sie historisch zum Untergang verurteilt waren. So gerieten die Bauern Rußlands und der Sowjetstaaten schon früh gleich doppelt ins Visier der Revolutionäre – zum einen als Verkörperung einer anstößigen Zurückgebliebenheit, die nur durch Maßnahmen der Zwangsmodernisierung aus der Welt zu schaffen war; zum anderen als Erzeuger der Lebensmittel, auf welche die revolutionären Elemente vom ersten Tag der Unruhen an Ansprüche erhoben. Lenin selbst gab den rüden Ton bei der Kulakenpolitik vor, indem er die selbständigen Bauern neben der Bourgeoisie, dem Klerus (»je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit wir erschießen können, desto besser«) und den menschewistischen Reformern als zu liquidierende »Klassen« in die erste Reihe stellte. Nur dank der zwischenzeitlich verordneten Rückkehr zu geldwirtschaftlichen Kompromissen (im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik nach 1921) sollte es für die meisten der genannten Gruppen ein temporäres Aufatmen geben.
    Dieses war endgültig vorüber, als Stalin um 1930 das Rad zu einer reinen Kommandowirtschaft zurückdrehte. Von da an rückte die »Vernichtung des Bauerntums als Klasse« auf der revolutionären Agenda ganz nach oben. Da es im regulären Marxismus für repressive Maßnahmen gegen das Bauerntum als solches keine Handhabe gab, mußte Stalin, Lenins Direktiven aufnehmend, das Schema des Kampfs zwischen Bourgeoisie und Proletariat so stark ausdehnen, daß es einen unvorhergesehenen Sonderklassenkampf einschloß: den zwischen den ärmeren und den nicht ganz so armen, zum Teil auch wohlhabenden Schichten der ländlichen Bevölkerung. Die letzteren hatten mit einem Mal die bedenklicheEhre, zu einem Substitut der ausgerottenen Bourgeoisie erklärt zu werden – ja geradewegs zu einem Repräsentanten »des Kapitalismus in der Landwirtschaft«. Folgerichtig wurde die neue Mobilisierung gegen jene Bauern gelenkt, die inmitten des allgemeinen ökonomischen Desasters (von 1917 bis 1921 war die Zahl der Hungertoten in Lenins Reich auf über fünf Millionen angestiegen) noch halbwegs erfolgreich zu wirtschaften imstande waren. Begreiflicherweise legten diese »Großbauern« keine Begeisterung an den Tag, wenn die Funktionäre des revolutionären Staates ihre Ernten beschlagnahmten. Ihr Zögern bei der

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