Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ein Denkverbot blockiert war. Weshalb die Linke dieser Begnadigung bedurfte, ist ohne Aufwand zu erklären. Angesichts der verheerenden Bilanz des Stalinismus gab es für sie ein Übermaß an Fehlern, Versäumnissen und Illusionen zu vertuschen, zu entschuldigen, zu relativieren. Die gutgesinnten Weggefährten wußten, was sie nicht wissen wollten – und wovon sie zur kritischen Zeit nichts gehört hatten. (Sartre zum Beispiel war im Bilde über zehn Millionen Gefangene in sowjetischen Lagern und schwieg, um nicht aus der Front der Antifaschisten auszubrechen.) Ihre stets problematischen Kooperationen mit den Moskauer Manipulateuren, ihr Sichblindstellen für die ersten Zeichen und den wachsenden Umfang des roten Terrors, ihr einäugiges Sympathisantentum mit der in Theorie und Praxis längst tief kompromittierten kommunistischen Sache – das alles verlangte dringend nach Verständnis, Verklärung und Vergebung. Naturgemäß mußte die Absolution von den eigenen Leuten und aus dem eigenen Fundus erteilt werden, da unabhängige Instanzen, die Pardon hätten geben können, nicht zur Verfügung standen.
Daß die extreme Linke Europas nach dem Zweiten Weltkrieg an sich selbst gespart hätte, kann nicht behauptet werden. Bei ihrem tief empfundenen Mitgefühl für sich selbst erklomm sie die gähnenden Höhen der Großzügigkeit. Indem sie immer wieder ihren Antifaschismus ins Feld führte,reklamierte sie, zusammen mit der grundlegenden historischen Legitimität – man hatte ja Großartiges gewollt –, das Recht, dort weiterzumachen, wo die Revolutionäre vor Stalin aufgehört hatten. Eine höhere moralische Mathematik wurde erfunden, nach welcher als unschuldig zu gelten hat, wer beweisen kann, daß ein anderer krimineller war als er selbst. Dank solcher Rechnungen avancierte Hitler für viele zum Retter des Gewissens. Um von Affinitäten eigener Engagements zu den ideologischen Prämissen der umfangreichsten Mordaktionen in der Geschichte der Menschheit abzulenken, wurden ideengeschichtliche Schauprozesse inszeniert, in denen alles auf den Weltkriegsgefreiten, den Vollender des Abendlandes, zulief. Dank maßloser Formen von Kulturkritik – etwa der Rückführung von Auschwitz bis zu Luther und Platon oder der Kriminalisierung der okzidentalen Zivilisation im ganzen – versuchte man, die Spuren zu verwischen, die verrieten, wie nahe man selbst einem klassengenozidalen System gestanden hatte.
Die kluge Umverteilung der Schande hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Man brachte es tatsächlich soweit, fast jede Kritik am Kommunismus als »Antikommunismus« und diesen als eine Fortsetzung des Faschismus mit liberalen Mitteln zu denunzieren. Wenn es nach 1945 tatsächlich keine offenen Exfaschisten gab, so fehlte es nicht an Paläostalinisten, Exkommunisten, alternativen Kommunisten und radikalen Unschuldigen von den äußersten Flügeln, die den Kopf so hoch trugen, als wären die Verbrechen Lenins, Stalins, Maos, Ceaușescus, Pol Pots und anderer kommunistischer Führer auf dem Planeten Pluto begangen worden. Die thymotische Analyse macht diese Phänome verständlich. Dieselben Menschen, die aus guten Gründen zu stolz sind für die Wirklichkeit – on a raison de se révolter –, sind manchmal aus weniger guten Gründen zu stolz für die Wahrheit.
Der Maoismus: Zur Psychopolitik des reinen Furors
Wer geglaubt hätte, die Lenkung thymotischer Energien durch das stalinistische Zornmanagement habe einen nicht weiter steigerbaren Grad an realpolitischer Kaltblütigkeit erreicht, wird durch den Maoismus auf zweifache Weise eines Besseren belehrt. Die erste Lektion steckt in der von Mao Zedong vorangetriebenen Erfindung einer neuartigen Guerilla, die ihre Bewährungsprobe in der Zeit der Bürgerkriege zwischen 1927 und 1945 ablegte – und die zahlreichen »Befreiungsarmeen« der Dritten Welt als Inspirationsquelle diente; die zweite ist durch die berüchtigte Kulturrevolution der sechziger Jahre zu erlernen, bei der, wie man sich erinnert, an die Stelle des Kampfs zwischen sozialen Klassen eine Entfesselung des Hasses von aufgeputschten Jugendlichen gegen die ältere Generation der Kulturträger trat. Auch hier standen Probleme des Zornmanagements im Zentrum. Was Maos Politik vom ersten Augenblick an prägte, war die methodisch betriebene Substitution fehlender revolutionärer Energien durch einen von der militärisch-politischen Führung provozierten und instrumentalisierten Gruppenfuror.
Der Ruhm Mao Zedongs verbindet
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