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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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das Wort »alternativ« seine Karriere. Natürlich lag die totale Absurdität und Verdorbenheit des »verwirklichten« Sozialismus offen zutage, doch solange der verdorbene und absurde Komplex Bestand hatte, bot das nackte Daß seiner Existenz den Grund zu der Vorstellung, es könne sich für seine fundierenden Motive auch eine nichtabsurde und nicht-perverse Verwirklichung finden lassen. Noch waren nicht alle dissidenten Potentiale zum Ausweichen in die Nachtprogramme und die Subversionspantomimen des Kunstbetriebs verurteilt; noch hatte sich der Horizont nicht auf die Freizeitmärkte für erotisch aufgekratzte letzte Menschen verengt.
    Für den heute dominierenden Pluralismus ohne Grenzen ist – neben dem epistemologischen Bruch mit der alteuropäischenmonologischen Konzeption von Wahrheit – hauptsächlich der Abschied vom Dogma der homogenen Evolution verantwortlich, das noch die europäische Aufklärung – hierin eine Erbin mittelalterlicher Logik – bestimmt hatte. Durch ihn kam das Ende für die Illusion, man könne die Höhe der Zeit von einer einzigen Metropole her beherrschen, wie auch immer sie heiße – Moskau, Paris, Berkeley, Frankfurt oder Heidelberg. Inzwischen haben die »Vielheiten«, die Ausdifferenzierungen, die Singularitäten so viel Zulauf, daß bei ihren Trägern sogar das Bewußtsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer einzigen »Menschheit« in Vergessenheit geraten könnte. Im Jahr 1951 schrieb Albert Camus im Blick auf die überstandenen Greuel: »das Unglück ist heute das gemeinsame Vaterland«. Von gemeinsamen Vaterländern jenseits der eigenen Interessensphären wollen die Heutigen meist nichts mehr wissen. Sogar die negative Utopie, die Erwartung einer weltweiten Naturkatastrophe, ist außerstande, einen übergreifenden Horizont verbindlicher Aufbrüche zu stiften. Der Geist der Desolidarisierung, privat, lokal, national, multinational, imperial, reicht so tief, daß jede Einheit auf ihre Weise die eigene Verschonung für gewiß halten möchte, sollten auch die übrigen vom Mahlstrom verschlungen werden. Wie gefahrenträchtig die multi-egoistische Lage ist, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen. Gehörte es zu den Lektionen des 20. Jahrhunderts, daß Universalismus von oben scheitert, könnte es zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die rechtzeitige Ausbildung des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.
    Diese Veränderungen ruinierten die moralischen, rhetorischen und doktrinalen Grundlagen der herkömmlichen Linken. Durch den Wandel der alltäglichen Evidenzen sind selbst ihre vormals erfolgreichsten Sprachspiele unplausibel geworden. Die biedermännischen gynäkologischen Bilder, an denen sich der Marxismus in guter Geburtshelferlauneberauschte, haben ihren Anhalt im Realen vollständig verloren. Wer könnte im Ernst die Phrase wiederholen, die Mittel zur Verwirklichung der klassenlosen »Gesellschaft« wüchsen »im Schoß« der bürgerlichen »Gesellschaft« heran – um eines Tages unaufhaltsam ins Freie durchzubrechen, und warum nicht mit Hilfe des blutigen Kaiserschnitts »Revolution«? Ebenso lächerlich wäre es jetzt, die überkommene Metapher vom »Untergrund« weiter zu benutzen, als ob da unten die Wahrheit und die Zukunft kauerten, bereit zum großen Sprung nach oben. Die Vorstellung von einer verborgenen »Gesellschaft« unter der »Gesellschaft«, einer geheimen Welt der Keller und Tunnels, wo man weitsichtig planend die Unterhöhlung der bürgerlichen Aufbauten betreibt, ist schlechterdings gegenstandslos – nur verworrene »Schläfer« warten im Schutz der Normalität auf den Tag ihrer Aktivierung. Die Tiefbunker, die heute gebaut werden – zum Beispiel für die geheimen Nuklearwaffenprogramme expansiver Mittelmächte – mögen alles mögliche sein, nur keine Inkubationszellen für glückliche Zukünfte.
    Der Verfall der Keller- und Untergrundmythologie geht heute so weit, daß selbst unerschütterliche Liebhaber der kommunistischen Idee wie Antonio Negri das alte Totemtier der Linken, den Maulwurf, haben preisgeben müssen. In einem Universum aus lauter Oberfläche, sagt Negri, hat dieses im Verborgenen wühlende Geschöpf seine politische Bedeutung eingebüßt – an seine Stelle soll die Schlange treten, eine Kreatur mit reichem gnostischem Vorleben, die dank ihrer Wendigkeit in der Horizontalen vorzüglich angepaßt ist an eine flache, transparente, ständig Gestalt und Farbe wechselnde Welt – und an eine

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