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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Tagesordnung gewesen sein, daß »angelegtes« Geld innerhalb weniger Wochen und Monate sich um das Achtfache vermehrte. Im Laufe eines Jahres avancierte der damals 50jährige Geschäftsmann Ion Stoica, der Initiator von Caritas , zum Helden der Nation. Ob Fabrikarbeiter, Arbeitsloser oder Angestellter – wer immer konnte, investierte sein letztes Geld, um in den Genuß der enormen Prämien zu gelangen. Viele beliehen oder verkauften ihre Häuser, um an liquide Mittel zu kommen. Zwei Jahre lang brachte Stoica es fertig, die begeisterten Anleger durch regelmäßige hohe Auszahlungen über die wahre Natur des Unternehmens zu täuschen – denn bei den »Gewinnen« handelte es sich natürlich nicht um Renditen aus regulären Unternehmen, sondern, wie bei Pyramiden- oder Schneeballspielen üblich, um bloße Verschiebungen von Geldern der späteren Anleger auf die Konten derer, die früher in das Spiel eingestiegen waren. Bis zu 20 Prozent der rumänischen Bevölkerung sollen allein bei dem am weitesten verbreiteten Investitionsspiel Coupons gekauft haben. Im Frühjahr 1994 kamen die Auszahlungen ins Stocken, kurz danach brachen die Systeme zusammen, zahllose Menschen standen vor immensen Schuldenbergen, nur mit Mühe konnte die rumänische Regierung einen Volksaufstand verhindern. Für die Betrogenen kann es nur ein schwacher Trost gewesen sein, daß Stoica zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
    Dieser abschreckenden Episode zum Trotz ging bald darauf der Geist des seligen Charles A. Ponzi (1882-1949) in zahlreichen anderen post-kommunistischen Ländern um. Ponzi, ein italienischer Abenteurer, der 1903 in die USA gekommen war, hatte 1919 in Boston das erste solcher Anlage-Spiele lanciert und war binnen eines Dreivierteljahres zum Multimillionär avanciert – er verbrachte danach viele Jahre in diversen Gefängnissen und starb nach langer Irrfahrt verarmt in Rio de Janeiro. In seinen guten Tagen wurde er vonbegeisterten Anlegern als der erste get-rich-quick -Financier des 20. Jahrhunderts gefeiert, und sein auf dem Handel mit Antwortcoupons der Post basiertes System (das vorgab, Wertdifferenzen zwischen amerikanischen und italienischen Wertzeichen auszunutzen) galt bei den Sympathisanten als die eleganteste Gelderzeugungsmaschine aller Zeiten. Seither wurden weltweit unzählige Versuche lanciert, mit Hilfe des sogenannten Ponzi-Schemas ein schnelles Vermögen zu machen. Auf Ponzis Spuren wurde der Russe Sergei Mavrodi mit seinem im Jahr 1994 kollabierten Pyramidenspiel MMM , bei dem mindestens fünf Millionen seiner Landsleute enorme Summen investiert hatten, innerhalb kürzester Frist zum sechstreichsten Mann Rußlands – was im Reich der neuen Milliardäre etwas bedeutet. Um Strafverfolgungen zu entgehen, ließ sich Mavrodi, von seinen Anhängern wie ein Erlöser verehrt, 1995 in die Duma wählen. Nach der Aufhebung seiner Abgeordnetenimmunität tauchte er im Ausland unter, ohne Zweifel in der Überzeugung, die Tage eines begabten Mannes seien zu kostbar, um sie in den Gefängnissen des neuen Rußland zu verbringen.
    In demselben Jahr sprang der Funke auf Polen, Tschechien, Bulgarien und Serbien über. Von Polen aus soll er nach Albanien weitergetragen worden sein. Es gehört zu den lehrreichen Momenten der Desowjetisierung, daß ausgerechnet das ärmste Land Europas zum umfangreichsten Laboratorium für postmodernen Abzockerkapitalismus wurde. Für die Plünderung der Illusionen in Osteuropa war unter anderem ein junger Hamburger Geschäftsmann von zweifelhaftem Ruf verantwortlich, dessen neu aufgelegtes und mit sektiererischen Psychotechniken propagiertes Schneeballsystem den Namen Jump trug, bevor es unter akuter Enttarnungsgefahr in Titan umbenannt wurde; dank polnischer Titan -Manager soll dieses Kettenspiel, erneut umlackiert, nach Albanien gelangt sein – wo es jedoch, wie man hörte, nur als eines unter einem guten Dutzend Pyramidenspielen betrieben wurde.Dort gelang es den Geschäftsführern der intensiv propagierten Spielwelle, während der erfolgreich durchgehaltenen Tarnungsphase von 1994 bis 1996 den größten Teil des Landes in eine Gier-Psychose zu stürzen. Die Vorstellung, Geld vermehre sich durch bloße Verleihung an eine »Investitionsgesellschaft« von selbst, durchdrang angesichts der verlockenden realen Auszahlungen zu Beginn des Spiels die ganze Bevölkerung, die jahrzehntelang unter dem Diktator Enver Hoxha in strikter Armuts- und Informationsklausur gelebt hatte – zu

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