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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Der Zorn will, scheint es, nicht mehr lernen. Er findet nicht zur Einsicht, und die Einsicht findet ihn nicht. Die Empörung hat keine Weltidee mehr vorzuweisen. Offensichtlich sind die herkömmlichen Linksparteien für ihre eigenen Ambitionen um eine Dimension zu dumm, sofern sie nicht zu träge sind, überhaupt Ambitionen auszudrücken. Die Intellektuellen lassen sich einladen und zitieren sich gegenseitig. Wo wirklich Ambitionierte das Wort führen, haben sie Wichtigeres zu tun, als sich um Erniedrigte und Beleidigte zu kümmern. Im Ostenwie im Westen sind von den Hoffnungen der vormaligen Revolutionäre, Reformer, Weltveränderer und Klassenerlöser bloße »Versteinerungen« übriggeblieben – um an eine bizarre Wendung Heiner Müllers zu erinnern, bizarr, weil Hoffnungen normalerweise verwelken, nicht versteinern.

After Theory
    So scheint das »Zeitalter des Extremen« abgelaufen – vorüber wie ein Spuk, von dem man nachträglich nicht mehr begreift, was ihn mächtig machte. Radikalität ist in der westlichen Hemisphäre nur noch als ästhetische Haltung, vielleicht als philosophischer Habitus von Belang, nicht mehr als politischer Stil. Mit großer Folgerichtigkeit hat die Mitte, das formloseste der Monstren, das Gesetz der Stunde erkannt und sich zur Hauptdarstellerin, ja zur Alleinunterhalterin auf der posthistorischen Bühne erklärt. Was sie berührt, wird sofort wie sie – gutmütig, charakterlos, despotisch. Die Agenten der extremistischen Ungeduld von einst sind arbeitslos geworden, sie bekommen vom Zeitgeist keine Rollen angeboten. Gefragt sind jetzt belastbare Langweiler. Von ihnen wird erwartet, an großen runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs zu finden. Die unerbittlich weiche Mitte macht Hybride aus allem und allen.
    Noch hat man Mühe, die Tiefe des Einschnitts zu verstehen. Ein gutes Jahrhundert lang hatte der Wirklichkeitssinn das Nötige getan, um sich im
     Äußersten anzusiedeln – vermutlich, weil er immer die Nähe zu Kriegen hielt, ja, weil er den Krieg überall sah oder sehen wollte. Wer im Zeitalter der
     Extreme lebte, war Zeuge eines Zustands, in dem, wie Hobbes notierte, »der Wille zum Kampf hinreichend bekannt ist«. 2 Was Frieden zu sein schien, wurde unweigerlichals falsche Miene des Kriegs enttarnt. Jede Vermittlung, jede versöhnende Geste erschienen als Verrat an der schroffen Wahrheit des Extremen. Hingegen wird jetzt alles Einseitige und Zugespitzte als Unfähigkeit belächelt, den bedingten und vermittelten Charakter jeder Position einzusehen. Dasein und In-der-Mitte-Sein meinen heute dasselbe. Heidegger würde wohl sagen: Existieren heißt Hineingehaltensein in die Mittel-Mäßigkeit. 3
    Diese Aussagen sind ungefähr deckungsgleich mit dem, was Zeithistoriker, Kolumnisten und arbeitslose Sowjetologen meinen, wenn sie von der post-kommunistischen Situation sprechen. Man darf legitimerweise behaupten: So gut wie alles, was in den letzten Jahrzehnten an post -Diskursen am Publikum vorübergezogen ist, läuft letztlich im Konzept der post-kommunistischen Situation zusammen (welche der Sache nach seit der späteren Breschnew-Ära gegeben war). Sofern das sowjetische Experiment unbestreitbar das politische Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts gewesen ist, bedeutete sein förmliches Ende um 1991 die entscheidende Zäsur, von der die objektiv wichtigen »Nach«-Datierungen ausgehen. In der seit gut zwei Jahrzehnten anhaltenden Inflation des Präfixes post drückt sich symbolisch der Sachverhalt aus, daß die futurischen Energien der Zorn- und Dissidenzkultur unaufhaltsam verlöschen.
    Hört man in jüngerer Zeit sogar die These, man befinde sich in einer Situation After Theory – so der Titel eines Essays aus der Feder von Terry
     Eagleton, New York, 2003, der dem Thema einiges schuldig bleibt –, ist diese elegante Suggestion nur sinnvoll, sofern man sie ebenfalls auf die
     post-kommunistische Lage bezieht. Denn »Theorie«, wie sie von manchen ihrer enttäuschten Liebhaber beschworen wird, ist ohne den Bezug auf die
     kommunistische Utopie gegenstandslos. Wer sich zu den Glanzzeiten marxistischenEinflusses mit Gesellschaftstheorie befaßte, mußte schon aus sachlichen Erwägungen den Blick aufs Weltganze richten – nicht im Modus der akademischen Kontemplation, versteht sich, sondern als Teilnehmer an einer Lagebesprechung, im Ernstfall sogar als Mitglied eines Kriegsrats. Zu einer diskursiven Praxis von gebieterisch auftretender Radikalität konnte

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