Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nach mit kühler Überlegung ausgelöscht hat, sagt er sich in einem sentimentalen Abschiedsbrief von der Rache los und bekennt, er sei, wie vormals der Satan, der Versuchung erlegen, Gott sein zu wollen. Nun aber, da er die Anmaßung, selber Gerichtstag zu halten, überwunden habe, kehre er zum menschlichen Maß zurück. Er möchte künftig nur noch ein Mensch unter Menschen sein, besser: ein reicher Mann unter reichen Leuten. Von seinen Freunden nimmt er Abschied mit der Mahnung: »Die ganze menschliche Weisheit liegt in den Worten: warten und hoffen!«
Von diesem Mann will das Publikum aus begreiflichen Gründen nichts mehr hören. Es hat ganz recht, wenn es den fade gewordenen Privatier ohne Bedauern ziehen läßt. Ein Angehöriger der zufriedenen Klasse mehr oder weniger – das ändert nichts an der Lage der Welt. Was gehen uns die Schicksale eines Deserteurs an, der die erhabene Sache des Unglücks im Stich läßt, sobald er für sich selbst Satisfaktion erlangt hat? Wer den Fahneneid auf den Geist der Rache bricht, hat den Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit verspielt. Mit sicherem Urteil hält sich der Leser weiterhin an den Unbekehrten, der nach seiner Auferstehung aus dem Kerker auf der Exekution seines Zorns bestand wie auf einem heiligen Rechtstitel. Ihm allein gelten auch die Träume Fidel Castros, wenn er an den langen Nachmittagen von Havanna in seinem Lieblingsbuch, dem Grafen von Monte Christo , blättert.
4 Z ORNZERSTREUUNG IN DER Ä RA DER M ITTE
»Die Konservativen beginnen mit Enttäuschung, die
Progressiven enden mit Enttäuschung, alle leiden an
der Zeit und kommen darin überein. Die Krise wird
allgemein.«
Niklas Luhmann, Protest
S ollte das starke Merkmal der aktuellen psychopolitischen Weltlage in einem Satz ausgedrückt werden, er müßte lauten: Wir sind in eine Ära ohne Zornsammelstellen mit Weltperspektive eingetreten. Weder im Himmel noch auf der Erde weiß man mit der »gerechten Wut des Volkes« noch etwas Rechtes anzufangen. Die heilige fureur , von der sich Jean-Paul Marat, einer der Schlimmen und Großen unter den Agitatoren von 1789, die Schaffung einer neuen Gesellschaft versprochen hatte, läuft heute allenthalben ins Leere. Sie erzeugt nur unzufriedenes Rauschen und bringt kaum mehr als isolierte Audruckshandlungen zustande. So riesenhaft man sich die Widerspruchspotentiale der Gegenwart, ob in den Ländern des Zentrums oder an den Peripherien, realistischerweise vorstellen muß – sie sammeln sich nicht mehr in den historisch bekannten Formen von radikalen Parteien oder internationalen oppositionellen Bewegungen, die ein bürgerliches Zentrum oder einen autoritären beziehungsweise scheinliberalen Staat unter Druck setzen. Die vagabundierenden Dissidenzquanten scheinen nicht mehr zu wissen, ob sie noch eine Aufgabe haben. Da und dort sieht man Protestzüge unter Transparenten, 1 brennende Autos geben dem Zorn von deklassierten Immigranten Gestalt, opportune Empörungswellen verwandeln alte Kulturnationen in Debattierclubs, in denen man sich wochenlang über unerlaubte Hitlervergleiche und dubiose Freiflüge für Minister erregt. Vereinzelt tauchen anspruchsvollere politische Projekte oder Netzwerke von regionaler Bedeutung auf (die sich selber gern zum Weltniveau emporreden). Nirgendwo jedoch artikuliert sich eine Vision, die einer handlungsfähigen Sammlung Perspektiven weist – den Sonderfall des radikalen politischen Islam werden wir weiter unten kommentieren.
Die Zerstreuung der Kräfte steht in bemerkenswertem Kontrast zu dem allgegenwärtigen Gerücht von der Vernetzung der Welt durch die neuen Medien. Bezeichnet Vernetzung vielleicht selbst nur einen Zustand der organisierten Schwäche? In großen Teilen der Dritten Welt, sofern man sie weiter so nennen will, wie in einigen Ländern der ehemaligen Zweiten, erscheinen die Zustände, die zum Himmel schreien, nicht weniger fatal als die Lage der englischen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert nach Friedrich Engels’ beklemmender Beschreibung. Man möchte meinen, die Summe des potentiell zornerregenden Leidens, Elends und Unrechts auf der Erde müßte für zehn Eruptionen, vergleichbar dem Oktober 1917, ausreichen – zumal wenn man die stark verbesserten Informationsverhältnisse in Betracht zieht. Doch bleibt die Aufmerksamkeit auf diese Energien mäßig, konstruktive Verwertungen der psychopolitisch relevanten Affekte sind kaum zu beobachten – den Thymos-Feldern gelingt es nicht, sich zu stabilisieren.
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