Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
lispelnde Linke. 5
Um auf die Ironie der Lage zurückzukommen: Seit man auf den real nicht mehr existierenden Sozialismus zurückblickt, begreift man die grimmige Pointe der post-kommunistischen Situation: Nach 1991 gab es nichts zu begreifen, was für aufmerksame Beobachter des sowjetischen Experiments nicht im Prinzip ab 1918 und Lenins Dekreten über den Roten Terror evident gewesen wäre, für die Sympathisanten der Linksopposition ab 1921, für nervenstarke »Weggefährten« seit den Säuberungen der dreißiger Jahre, für einäugige Antifaschisten ab 1945, für im utopischen Trotz Verkalkte ab 1956 und für Sonderschüler der Geschichte ab 1968.
Auch die Lesekunst der »Dekonstruktion«, diensthabende Statthalterin der radikalen Kritik, konnte sich auf der Bühne nur halten, indem sie deutlich von den Mythen des Untergrunds Abstand nahm. Sie denkt nicht daran, in die unmöglichen Tiefen der Texte und Institutionen hinabzusteigen, um Sprengstoffe an den »Fundamenten« anzubringen. Behutsam weist sie auf die Labilität und Mehrdeutigkeit der scheinbar solidesten Gefüge hin; sie zeigt die Unschärfe der vorgeblich härtesten binären Gegensätze auf; sie macht die verborgenen Selbstwidersprüche der kohärentesten Diskurse manifest. Als eine neue Version von Traumdeutung an Texten jeder Art, insbesondere denen der alteuropäischen Metaphysik, ist sie, obschon ihre Adepten oft das Gegenteil behaupten, eine nachgerüstete Version der Hermeneutik, die sich mit kritischem Apparat und großer Gebärde der Aufgabe widmet, vorläufig alles zu lassen, wie es ist. 6 Von diesem Befund aus läßt sich im übrigen die verhüllte Komplizenschaft zwischen dem Dekonstruktionismus und der amerikanischen Massenkultur begreifen: Auch die letztere ist der Mission verpflichtet, das »Bestehende« nicht anzutasten. Ihr Mittel hierzu ist die unaufhörliche Beschwörung des Traums von einer schlechteren Welt, neben der die vorhandene wie die verwirklichte Utopie erscheint, würdig, mit allen Mitteln verteidigt zu werden.
Man könnte zahlreiche Beobachtungen von ähnlicher Tendenz zusammentragen, um immer denselben Sachverhalt zu konstatieren: Nach der Demission des östlichen Kontrahenten aus dem Weltbürgerkrieg von 1917 bis 1945 und seit der Beendigung des kalten Krieges zwischen den beiden ersten Nuklearmächten ist das in die Extreme ausschlagende ideologische Pendel beinahe zum Stillstand gekommen. Wo alles in die Mitte zieht, setzt sich die Schwerkraft gegen die antigraven Tendenzen durch. Berliner Graffiti-Maler haben es begriffen: Das Sein verstimmt das Bewußtsein. Unter »Sein« sind jetzt die Gravitationskräfte der Einheitsmitte zu verstehen. Als wirklich kann gelten, was die Kraft hat, herunterzuziehen. Was liegt da näher, als daß das neue unglückliche Bewußtsein sich wie in alten Tagen vom Sein abstößt? Genau dies ist die Signatur einer Zeit, die alles, nur nicht mehr kritisch sein will. Auf breiter Front hat sich die Intelligenz von der Kritik abgewandt, um wieder für den Vorrang der Religion zu votieren. Die Desäkularisierung gewinnt täglich an Boden, das Verlangen nach der lebensdienlichen Illusion hat die »Wahrheit« niedergerungen – was diese Wende für den Prozeß der Zivilisation auf lange Sicht bedeutet, ist von heute aus noch nicht zu überblicken. Kritik war, wohlgemerkt, die Konsequenz aus der ontologischen Annahme, daß Fiktionen an Tatsachen scheitern können. Jetzt sind es die Tatsachen, die an Fiktionen scheitern – schon darum, weil ihnen künftig selbst nur noch der Status von erfolgreichen Fiktionen zukommen soll.Spätere Historiker werden bestätigen, daß das 20. Jahrhundert während seines letzten Drittels von dem Motiv der Rückkehr zur Mitte dominiert wurde – einer Mitte, die sich über ihre Motive und ihre philosophischen Implikationen allerdings nie zureichend verständigen konnte. Sie werden den Unwillen der Intellektuellen, den Mittellagen positive Werte abzugewinnen, als eines der Krisensymptome der Epoche herausarbeiten – durch die anhaltende Romantik des Radikalen wurden die Lernprozesse blockiert, die auf die Probleme des 21. Jahrhunderts vorbereitet hätten. Sie werden zu rekonstruieren haben, wie es zu dem Verfall der westlichen Demokratien kam, die sich nach 1990 und stärker noch nach 2001 mehr und mehr einer neo-autoritären, teilweise neobellizistischen Wende verschreiben sollten.
Kehren wir zu heutigen Perspektiven zurück, so scheint der Horizont noch relativ
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