Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
»Theorie« nur geraten, weil sie, offen oder diskret, die Konsultation der Weltrevolution bedeutete – das war der Grund, warum sie noch im kühlsten Vortrag an einem messianischen Vibrato zu erkennen war. Das Interesse an ihr entsprang aus der zumeist verhohlenen, doch nie dementierten Suggestion, es könne so etwas wie eine logische Komintern geben – eine philosophisch-soziologisch-psychoanalytische Supervision der großen Rachehandlung namens Weltgeschichte. Wird dieses Schauspiel abgesetzt, ist es vorbei mit dem Drama und der Theorie in einem. Wer after theory sagt, meint eigentlich after politics . »Nach der Politik« lebt, wer nicht mehr glauben kann, daß das, was sich noch machen läßt, »die Revolution« voranbringt. Damit zerfällt der präsentische Adventismus, der den prärevolutionären und revolutionären Existenzen seine Form aufgeprägt hatte. Waren die Aktivisten durchdrungen von der Gewißheit, die Gegenwart sei von den Spuren des Kommenden erfüllt, so leben die Entzauberten von heute aus der Überzeugung, die Zukunft sei bereits dagewesen – und von einem zweiten Besuch will niemand etwas wissen.
Auf einer gewissen Höhe betrieben, war »Theorie« eine radikalromantische Affaire, da sie wie ein kultureller Geheimdienst das Unbewußte der Klassen»gesellschaften« ausspähte, um herauszufinden, was aus dem behinderten Verlangen der Menschen nach dem Anderen geworden sei. In den Dossiers dieses Dienstes war darum immer von Alterität die Rede. Das Amalgam, das während des indian summer des Neomarxismus als Kritische Theorie oder als Theorie ohne Beiwort in deutschen und angloamerikanischen Universitätendie Runde machte (indessen das damalige Frankreich seine Ressourcen an Jakobinismus und Formalismus hinzugab), war der Sache nach nichts anderes als eine apokalyptische Semiologie, die einer Wissenschaft von der Krise des »Bestehenden« zur Hand ging. Sie lieferte das Zubehör zur Beobachtung Großer Politik – immer bereit, die emergierenden Zeichen zu deuten, die das Weltende und die Weltwende erkennen lassen – oder das traurige und schwer deutbare Ausbleiben von beidem. 4
Nachdem die Weltbank des Zorns ihre Geschäfte einstellte, sind zahllose ideologische Agenturen in den Konkurssog mitgerissen worden. Nur wenigen, wie Noam Chomsky und einigen neuen Monotonen, ist die Restrukturierung nahezu auf der Höhe früherer Erfolge geglückt – obschon nur auf Außenseitermärkten. Dies bedeutet nicht, daß die übrigen Zeitgenossen in Zustände verdrossener Ausdruckslosigkeit versunken wären. Wir müssen keineswegs verstummen, wenn wir das mal d’être unserer Tage aussprechen wollen, bloß weil der Osten nicht mehr rot ist. Im Gegenteil ist bemerkenswert, wie schnell die zeitgenössische Intelligenz sich an die Lage anzupassen wußte, in der kein universell sammlungsfähiges Depot für Zorn, Empörung, Dissidenz, Subversion und Protest zur Verfügung steht, erst recht keine Emissionszentrale für glaubwürdig über das aktuelle Weltsystem hinausführende Zukunftsprojekte. Und doch: Wo immer man unter Intellektuellen alten Stils die Wiedererfindung des Politischen beschwört, mischt sich das Heimweh nach den Zeiten ein, in denen man glauben wollte, den Tag des Zorns dicht vor sich zu haben.
Obschon die Sowjetunion spätestens seit dem Tod Stalins 1953 als moralisch erloschener Koloß auf der Weltbühne figurierte und jede Attraktivität für die dissidente Phantasie verloren hatte, wirkte ihre faktische Existenz als Garant, daß das Prinzip Links eine Art von irdischer Verankerung besaß. So konnte sich Jean-Paul Sartre, obwohl zu keiner Zeit förmliches Mitglied der Kommunistischen Partei, noch im Jahr 1952 »zur führenden Rolle der Sowjetunion« bekennen. Ganz wie die römisch-katholische Kirche selbst in den Zeiten der ärgsten Perversion durch ihr bloßes Bestehen ihren transzendenten Auftrag bezeugte, gab der entzauberte »Ostblock« dem moralischen und ontologischen Postulat Rückhalt, es müßten Spielräume für Optionen existieren, die über das kapitalistische Weltsystem hinausweisen. Glaubhafter als heute konnte der Geist der Utopie auf seiner Forderung bestehen, »links vom Bestehenden« solle sich ein Feld auftun, in dem die möglichen Welten blühen. Niemand wäre damals auf den dumpfen Slogan verfallen: Eine andere Welt ist möglich. Die andere Welt war mitten unter uns, und sie war entsetzlich. Was man verlangte, war eine andere Andersheit – in dieser Situation begann
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