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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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deren mittelbaren Folgen auch die Ahnungslosigkeit des Publikums in bezug auf die erst kurz zuvor abgewickelte rumänische Affaire gehörte. Bis Ende 1996 hatten mehr als die Hälfte der 3,3 Millionen Albaner »Investitionen« in die landesweit aktiven Pyramidenspiele getätigt – viele davon unter Verpfändung ihrer Häuser und Höfe bei realen Banken. Auch hier sollen Profite von bis zu 100 Prozent in wenigen Monaten in Aussicht gestellt und zeitweilig bezahlt worden sein, in der nervösen Endphase des Spiels sogar 40 und 50 Prozent pro Monat – Anreiz genug, um jeden Ansatz zu einem vernünftigen Zögern außer Kraft zu setzen. Die albanischen Pyramiden erreichten ihre hohe Attraktivität auch aufgrund der Tatsache, daß im staatlichen Fernsehen für sie geworben wurde – was zahlreiche Anleger als Seriositätsbeweis mißdeuteten.
    Als die Spiele im Januar 1997 kollabierten, brach im ganzen Land eine Enttäuschungspanik aus. Die Empörung kannte keine Grenzen: Man hatte sich mit gutem Geld vom Realen losgekauft, nun verzieh man ihm seine Rückkehr nicht. Aufgebrachte Anleger beschuldigten den Staat und die Regierung, die nötigen Maßnahmen zum Schutz der Anleger versäumt zu haben – was zutreffend war, da die Verantwortlichen entsprechende Warnungen seitens der Weltbank ignoriert hatten. Spontane Gruppen von Geschädigten setzten Polizeistationen in Brand, während Banden wütender Arbeiter und Angestellter die Waffenlager von Polizei und Armeestürmten. Sie brachten rund 600.000 Handfeuerwaffen in ihren Besitz, mit dem Nebeneffekt, daß im Laufe der folgenden Jahre die Mord- und Totschlagsrate in Albanien um das Fünffache nach oben schnellte – die Mehrheit der Waffen konnte nie mehr rekuperiert werden. Über Nacht schienen sich die staatlichen Strukturen aufzulösen, zahlreiche Provinzstädte fielen in die Hände von Aufständischen, die sich überwiegend aus Angehörigen der oppositionellen Sozialistischen Partei rekrutierten. Die Hauptstadt Tirana wurde zum Schauplatz von Bürgerkriegsszenen. Mehrere Wochen lang war eine ordnende Autorität nirgendwo sichtbar, wohl auch deswegen, weil ein großer Teil der Staatsangestellten selbst zu den Betrogenen gehörte und sich den Protesten anschloß. Nur durch das Versprechen einer Verdreifachung ihrer Bezüge wurden zahlreiche desertierte Polizisten zur Rückkehr auf ihre Posten veranlaßt. Der albanische Präsident Sali Berisha, vormals der Leibarzt Enver Hoxhas, dessen Demokratische Partei auf die sichtbarste Weise mit den Managern der Pyramiden liiert gewesen war, sah sich zum Rücktritt gezwungen.
    Auf dem Höhepunkt der Unruhen stürmte die Menge, getrieben von einer Mischung aus Trotz und Rachsucht, die Schulen und Universitäten sowie zahlreiche Fabriken und Behörden und schleppte alles, was sich irgendwie tragen ließ, davon, der Rest wurde in blinder Wut zertrümmert. Westliche Beobachter, die kurz danach Albanien besuchten, berichteten, sie hätten selbst in vom Krieg verwüsteten Ländern kaum je ein solches Maß an Zerstörung wahrgenommen. Öffentliche Gebäude waren bis zur letzten Türklinke geplündert; in kalten Wohnungen saßen Familien unter einer Wolldecke und starrten den ganzen Tag auf die Bilder des italienischen Werbefernsehens. Aus Furcht vor der allgemeinen Raserei versuchte eine Vielzahl von Albanern auf überfrachteten Marineschiffen und maroden Fischkuttern, ja sogar auf Flößen das Land zu verlassen – binnen wenigerTage waren die Häfen von Brindisi und anderer italienischer Adriastädte von Flüchtlingen überflutet. Die europäischen Außenminister waren, wie üblich, außerstande, eine praktikable Einigung über Quoten für die Aufnahme jener »Invasion der Verzweifelten« in die Länder der Union zustande zu bringen. Daß es in relativ kurzer Zeit zu einer Normalisierung der Verhältnisse kam, ist vor allem auf das Eingeständnis der neu gebildeten Regierung Albaniens zurückzuführen, der Staat trage Mitschuld an dem Debakel. Zudem konnte die albanische Zentralbank bedeutende Summen durch Einfrieren der Pyramidenkonten für die Anleger retten; ein anderer Teil der Verluste sollte über den Staatshaushalt aufgefangen werden.
    Es kann in unserem Zusammenhang nicht darum gehen, die geistesgegenwärtige Infamie der Organisatoren solcher Spiele zu würdigen, die wie geschaffen waren, die Naivität beziehungsweise die jähe Kapitalismusbereitschaft unzähliger Bürger in den Ländern des ehemaligen »Ostblocks« auszubeuten. Was

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