Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
altgedienten Mitspielern des kapitalistischen Systems hoch im Kurs steht. Für das Imaginäre der neuzeitlichen Volkswirtschaften besitzen die magischen und irrationalen Aspekte der ungleichen Wohlstandsverteilung eine Bedeutsamkeit, die als archetypisch zu bezeichnen wäre, wäre der Ausdruck nicht durch irreführendetiefenpsychologische Konnotationen besetzt. Die moderne Eigentumswirtschaft hat von Anfang an eine schillernde Aura von Glücksphantasien angezogen, für welche der Terminus Fortuna-Kapitalismus angemessen ist. Diese real-imaginäre Dimension der neuen ökonomischen Prozesse wurde auch von den außereuropäischen Anwendern des Systems in kurzer Zeit vollständig erfaßt. Wenn die moderne Eigentums- und Geldwirtschaft – die man oft mit falschem Zungenschlag Kapitalismus nennt – ein über Kulturgrenzen hinweg ausstrahlendes Fascinosum besitzt, das gelegentlich sogar seine praktischen Vorzüge in den Schatten stellt, dann stammt es zweifellos aus dieser Quelle. Im übrigen ist der Glaube an die wiedergekehrte Fortuna, die via Banken und Börsen die Ihren begünstigt, als eine nach-christliche Umdeutung protestantischer Auserwählungsphantasien zu deuten – auf die Gefahr hin, hierdurch den gnadenlosen Kern des Calvinismus aufzudecken, dessen wahres Gesicht sich in der mystischen Obszönität des Sich-Gott-nahe-Fühlens nach Kassenschluß bekundet.
Die Grundlagen für die objektive Vergleichbarkeit des regulären Kapitalismus mit einem Ponzi-Schema sind in dem nicht bestreitbaren Faktum zu sehen, daß es sich bei beiden Modellen um kreditbasierte Wachstumssysteme handelt, die auf Gedeih und Verderb von erweiterter Reproduktion abhängig sind. Beiden ist eine Zusammenbruchstendenz inhärent, deren Handhabung für die Systemdynamik im ganzen konstitutiv wird.
Bei einem reinen Ponzi-System muß der Kollaps relativ kurzfristig eintreten (oder bewußt herbeigeführt werden), weil die Zahl aktuell akquirierbarer neuer Mitspieler sich unvermeidlich nach wenigen Runden erschöpft – weswegen selbst bei guter Tarnung eine Spieldauer von wenigen Jahren kaum zu überschreiten ist. Ponzi selbst brachte es auf rund neun Monate, seine osteuropäischen Nachfolger auf maximal zwei Jahre. Hingegen zeichnet sich der industrie- und bankenbasiertereguläre Kapitalismus dadurch aus, daß seine Spieler auf den Zinsdruck mit wirtschaftlichem Wachstum antworten, das in der Hauptsache der Synergie von Marktexpansion, Produktinnovation und technischer Rationalisierung zu verdanken ist. Sein Modus der »Flucht nach vorn« ist konsequenterweise elastisch, langfristig und mit der Krise vertraut. Seine Gangart schließt erfinderisches und zivilisatorisches Verhalten ein und schreckt zuweilen sogar vor kulturrevolutionären Aufbrüchen nicht zurück. Selbst zum Erstaunen seiner eigenen Agenten erwies sich der Kapitalprozeß bisher als immer wieder imstande, Zusammenbruchstendenzen auch über größere Schwankungs- und Stagnationsphasen hinweg unter Kontrolle zu bringen. Er kann sich heute auf eine mehr oder weniger kohärente Entwicklungsspanne von circa zehn menschlichen Generationen berufen – sofern man die Industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts als seine Schwellenzeit ansieht, sogar von zwanzig Generationen, wenn man, mit Immanuel Wallerstein, das kapitalistische Weltsystem schon um das Jahr 1500 Konturen annehmen läßt.
Im Blick auf diese Leistung ist zu konstatieren, daß das prinzipiell ahistorisch beziehungsweise rein futurisch verfaßte kapitalistische System doch eine Geschichtlichkeit eigener Art hervorgebracht hat. Deren Tendenz wurde in der Anfangsphase des Spiels mit dem Singularbegriff »Fortschritt« mystifiziert. Dies ändert wenig am ironischen Verhältnis des Kapitalismus zu vergangenen Zeiten. Die unternehmerisch bewegte Welt braucht die Vergangenheit im Grunde nur noch, um sie hinter sich zu lassen. 9
Seinen heutigen Mitspielern und Kritikern tritt der Kapitalismus mit hohen Seriositätsansprüchen gegenüber, zumal nach dem Verschwinden der sogenannten sozialistischen Alternative. Sie lassen sich in der These zusammenfassen, erhabe ein Wachstumsmodell von prinzipiell unerschöpflicher Zukunftsmächtigkeit anzubieten. In dessen Namen darf von den Akteuren die Bereitschaft zur Teilnahme an Lebensformen verlangt werden, zu denen der permanente technische Wandel und die Durchdringung aller Lebensbereiche durch Kommodifizierung und Geldvermittlung gehören. Die Wahrheit ist, daß es um die
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