Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
den geschilderten Vorgängen symptomatisches Gewicht gibt, ist der Umstand, daß sich in der infektiösen Energie, mit der sich die Welle in sehr armen Ländern wie Rumänien und Albanien ausbreiten konnte, eine Aussage über das Wesen des Kapitalismus im allgemeinen verbirgt – zumindest über eine Außenansicht des Systems, wie es sich in den Tagträumen von Menschen darstellt, die während mehrerer Generationen von der Erfahrung des freien Marktes und der Eigentumswirtschaft ausgeschlossen waren. Die rumänischen und albanischen Tragikomödien legten tatsächlich – neben manchen Aspekten der menschlichen Natur – den Märchenkern des kapitalistischen Reichtumsgedankens offen: die Vorstellung, daß dem als Kapital verwendeten Geld per se die Eigenschaften eines sich selbst vermehrenden Fluidums zukommen – oder daß Geld als Kapital ein machtvolles Amulett darstellt, das seinem Besitzer die stetige Ankunft von Glücksgütern verspricht.
Man muß zugeben: Diese Phantasie entbehrt nicht jeder Grundlage, obschon die seriöseren Interpreten der Marktwirtschaft beziehungsweise der Eigentumsökonomie seit langem vor den Überspannungen der rein spekulativen Geldverwendung warnen, ja, den abgehobenen Kasino-Kapitalismus als Gefahr für die Weltwirtschaft insgesamt bezeichnen. Tatsächlich wird die Realwert schaffende Partei innerhalb des kapitalistischen Komplexes nicht müde zu betonen, der Prozeß der Reichtumsschöpfung beruhe zunächst und zumeist allein auf der kunstgerecht gesteuerten Synergie von Eigentum, Geldschöpfung, Arbeit, Organisation und Innovation, während alle übrigen Transaktionen, insbesondere die rein geldwirtschaftlichen, sosehr sie quantitativ die Oberhand gewonnen haben, nie mehr als Rauchringe im virtuellen Raum darstellen. Dagegen hält die Partei der leichten Gewinne unbeirrbar an der Auffassung fest, Bereicherung sei nichts anderes als der natürliche Lohn des spekulativen Risikos. Für sie manifestiert sich im Reichtum letztlich nicht das Resultat von Arbeit und Leistung – obschon sie deren Notwendigkeit nicht ganz abstreiten. Der wahre Sinn von Reichtum liegt ihnen zufolge darin, die Souveränität der Fortuna zu demonstrieren, die ihre Lieblinge auserwählt und die anderen leer ausgehen läßt. In weniger mythologischer Ausdrucksweise soll das sagen: Wer gewinnt, hat recht, und wer verliert, darf sich nicht beklagen.
Der Trugschluß der Albaner war demnach nicht darin zu suchen, daß sie die Tatsachen des spekulativen Kapitalismus völlig falsch verstanden hätten. Sie erlagen vielmehr einem spätsozialistischen Traumbild, das ihnen suggerierte, es könne auch unter dem Vorzeichen des Kapitals den Hauptgewinn für jeden geben. In ihrer Bereitschaft, den Phantomen des sozialistischen Stolzes abzuschwören und endlich auch, wie die übrigen Angehörigen der freien Welt, dem Appell zum Vorrang des Begehrens Folge zu leisten, hatten sie sich ohne Hintergedanken zu den neuen Gegebenheiten bekannt.Aufgrund ihrer Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich einen realistischen Begriff zu machen von den Quellen der erhofften Gewinne, blieben sie Gefangene ihrer Vergangenheit. Zweifellos spielte beim Ansturm auf die Pyramidenspiele die Empfindung eine Rolle, man sei lange genug vom Reichtum und seiner Umverteilung ausgeschlossen gewesen. Nach einem halben Jahrhundert unter einer Diktatur des Mangels, die das Volk mit hochtrabenden Phrasen überfütterte, wollte man endlich einen Anteil an den angenehmen Ungerechtigkeiten der wohlhabenden Welt für sich verbuchen – sollten auch irgendwelche Unsichtbaren die Rechnung für die märchenhafte Vermehrung eigener Einsätze bezahlen. Wie alle, die dem Ruf des populären Eros folgen, waren die munter gewordenen Albaner überzeugt, für diesmal seien sie an der Reihe, die etwas zu schöne Braut nach Hause zu führen.
Realer Kapitalismus: Kollapsverzögerung in gierdynamischen Systemen
Nichts war darum angesichts des albanischen Malheurs weniger am Platz als der Sarkasmus mancher westlicher Beobachter, die sich über den »skipetarischen Kapitalismus« vor Lachen ausschütten wollten. In Wahrheit dürfte es nur wenigen Parteigängern des regulären Kapitalismus gelingen, den Unterschied zwischen der von ihnen favorisierten Wirtschaftsweise und einem simplen Pyramidenspiel hinreichend präzise zu definieren. Die Tatsache ist nicht zu leugnen, daß das Phänomen des unverdienten Gewinns – allgemeiner: des leistungslosen Einkommens – auch bei
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