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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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elf, oder?
    Er wusste es nicht mehr. Die Leere kam auf ihn zugerast, eine schwarze, riesige Dampflok, er biss die Zähne aufeinander, kämpfte mit aller Kraft, doch sein Verstand löste sich auf, schrumpfte zusammen wie Schnee auf einer warmen Kühlerhaube.
    Dann lag er da, und als er die Augen schloss, befand sich dahinter nur noch ein dumpf pulsierendes Nichts. Etwas hatte sich dort festgehakt, ein letzter, klarer Gedanke, nicht viel mehr als ein winziges Flackern in einer dunklen Galaxie.
    Der alte Mann schlief ein.
    Sein Entschluss war gefasst.
    *
    Claudius Zorn stand in einer Seitenstraße hinter dem Bahnhof und übte seine Rede. Hermann wohnte um die Ecke, Zorn brauchte noch ein paar Minuten, um sich vorzubereiten. Es ging nicht anders, er musste sich die Worte zurechtlegen, ansonsten würde er nachher stumm vor Malina stehen, unfähig, auch nur einen halbwegs verständlichen Satz herauszubringen.
    Es wurde wieder kälter, Zorn schüttelte sich und knöpfte die Jacke bis zum Hals zu. In den schmuddeligen Fenstern der Mietskasernen gingen Lichter an, Zorn wirkte verloren, ein einsamer Mann, halblaut vor sich hin murmelnd, allein in einer dunklen Gasse.
    »Lass uns das alles vergessen, Malina.«
    Er vergrub die Hände unter den Achseln und lief auf und ab, den Blick stur auf seine Füße gerichtet. Der Bürgersteig war mit schiefen, gesprungenen Betonplatten gepflastert, automatisch vermied er es, auf die Risse zu treten. Das tat er schon seit seiner Kindheit, warum, war ihm nie bewusst geworden.
    »Ich wusste nicht, dass Hermann …«
    Ja was? Schwul ist? Das war einfach zu albern, als ob das wichtig wäre!
    Ein Güterzug donnerte über die Brücke am Bahnhof, Bremsen quietschten, fast hätte Zorn sich die Ohren zugehalten. Über ihm wurde ein Fenster zugeknallt.
    »Es wird nicht wieder vorkommen. Scheiße, das ist auch Mist.«
    Er machte auf dem Absatz kehrt, blieb erschrocken stehen. Vor ihm stand ein kleiner Junge, höchstens zehn Jahre alt. Er trug eine Pudelmütze, unter dem Arm klemmte ein zerschrammter Fußball. Ein dünner Rotzstreifen lief ihm aus der Nase. Ernst, mit großen Augen sah er zu Zorn auf.
    »Was machst du da?«
    »Ich übe.«
    »Und was?«
    Zorn sah sich um. Sie waren allein auf der Straße.
    »Das geht dich nichts an.«
    Der Kleine taxierte ihn prüfend.
    »Du hast eine Macke, stimmt’s?«
    »Ja«, nickte Zorn ernst. »Eine richtige.«
    »Dann musst du zum Arzt gehen«, erklärte der Junge wichtig. »Zum Süchator. «
    Er leckte den Rotz von der Oberlippe und tippelte los. Vor dem nächsten Eingang blieb er stehen und stemmte das Tor mit der Schulter auf. Ein Knall, die Tür fiel ins Schloss, der Junge war verschwunden.
    »Das heißt Psychiater, du kleine Nuss«, knurrte Zorn.
    Im Erdgeschoss polterte es, Stimmen wurden laut.
    Wahrscheinlich, dachte Zorn, kriegt der arme Kerl eine Abreibung, weil er zu spät zum Abendbrot gekommen ist. Und ich sollte mich jetzt auch auf den Weg machen. Ich denke zu viel, ich werde sie einfach in den Arm nehmen.
    Aber vorher rauch ich noch eine.
    Zorn wühlte in der Jackentasche nach seinen Zigaretten.
    Blumen, überlegte er, ich hätte Blumen besorgen sollen, die schenk ich ihr fast nie, dann weiß sie, dass ich es wirklich ernst meine.
    Das war im Prinzip keine schlechte Idee. Eigentlich war er viel zu faul, um jetzt noch einmal zum Blumenladen am Bahnhof zu laufen, Hermanns Wohnung lag in der anderen Richtung.
    Zorn war unschlüssig, doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen.
    Sein Schädel explodierte. Finsternis senkte sich über seine Augen, als würde das Licht in seinem Kopf ausgeknipst.
    Dann ging er zu Boden.

Teil Vier
    Dreißig
    20 Uhr.
    Schröder saß mit seiner Mutter in der Küche. Die Wanduhr tickte, sie redeten nicht viel. Draußen fuhr ein Lkw vorbei. Im Geschirrschrank klapperten die Gläser. Sie hatten Spiegeleier gegessen, Schröder hatte kaum etwas angerührt.
    Die alte Frau starrte auf ihren Teller, schob mit der Gabel ein Stück Brot hin und her.
    »Wir dürfen nicht zulassen, dass er in ein Heim kommt.«
    »Das wird nicht passieren, Mama.«
    Sie sah ihn an, ihre Augen wirkten riesig hinter den dicken Brillengläsern.
    »Versprichst du’s?«
    »Ja.«
    »Gut.«
    Sie gähnte.
    »Geh schlafen«, sagte Schröder. »Es war ein anstrengender Tag.«
    »Und du?«
    »Ich bleib noch ein bisschen hier sitzen.«
    »Ach, ich bin wirklich müde.« Sie stand auf und schob die Teller übereinander. Eine Gabel fiel zu Boden, sie bückte sich,

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