Zorn - Wo kein Licht
Spur und fuhr geradeaus weiter auf die Hochstraße.
Na ja, dachte er. Ich kann ja vorher noch kurz bei de Koops Villa vorbeifahren und sehen, ob alles in Ordnung ist.
Mit Pflichtbewusstsein hatte das nichts zu tun. Ja, er würde Malina aufsuchen, das hatte er sich fest vorgenommen. Aber Claudius Zorn war ein Zauderer, er nutzte jede Gelegenheit, unangenehme Aufgaben zu verschieben, auch wenn er dabei nur zwanzig Minuten herausschlagen konnte.
Als er wenig später die Uferpromenade erreichte, hatte die Dämmerung eingesetzt. Er parkte unterhalb der Villa, stieg aus und sah sich um. Das große Haus thronte still und verlassen auf dem Hügel, halb verdeckt hinter den hohen Eichen. Irgendwo zwischen den kahlen Bäumen versteckten sich die Männer des Sondereinsatzkommandos, sie waren gut, dachte Zorn, nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin. Mindestens fünf Augenpaare mussten jetzt auf ihn gerichtet sein, er hob die Hand, grüßte kurz und stieg wieder in den Volvo. Ein weißer Lieferwagen näherte sich langsam von hinten. Zorn wartete, bis er vorbei war und fuhr dann ebenfalls los.
Auf der anderen Seite des Flusses färbte sich der Horizont. Im Westen standen die Wolken am Himmel wie Rauch über verlöschender Glut.
Die Sonne ging unter.
*
Vor dem Haus bellte ein Hund.
Schröders Vater öffnete die Augen. Das Fenster war noch immer gekippt, die Gardine bewegte sich sacht.
Er wälzte sich auf den Rücken, seine Hüfte schmerzte vom langen Liegen. Die Federn quietschten, das Bett war alt, sehr alt, ein hölzernes Doppelbett mit gedrechselten Füßen. Hier, auf dieser Federkernmatratze, hatte er vor Jahrzehnten seine Söhne gezeugt und so, wie es aussah, würde er auch hier sterben. Bald.
Eigentlich ist das nicht schlimm, dachte der alte Mann. Ich habe mein Leben gelebt. Nie bin ich jemandem zur Last gefallen, nie. Ich habe dieses Haus gebaut, es ist klein, aber ich war es, der alle Entscheidungen getroffen hat. Für mich, meine Frau und meine Söhne. Und ich will selbst bestimmen, wie ich sterbe.
Das Bellen wurde lauter, ein Ruf, das Tier verstummte. Es war der Nachbarshund, ein Cockerspaniel. Schröders Vater hasste diesen nervösen kleinen Kläffer, seit Jahren zertrampelte er das Gemüse, verteilte stinkende Häufchen auf dem Rasen und bellte alles an, was ihm über den Weg lief.
»Dieser verdammte Köter gehört an die Leine«, murmelte der Alte.
Jetzt war sein Kopf klar, die Gedanken geordnet, nichts zu spüren von diesem Nebel, der ihn so wütend machte.
Angefangen hatte es eher harmlos. Er hatte Kleinigkeiten vergessen, Sachen verschwanden, tauchten wieder auf, später konnte er sich nicht erinnern, dass er sie dort hingetan hatte: die Fernbedienung im Kühlschrank. Die Hausschuhe in der Spüle. Die Manschettenknöpfe im Mülleimer.
Dann folgten die Löcher. Immer wieder kam er zu sich, an den verschiedensten Orten, er hatte keine Ahnung, wie er dort hingekommen war, geschweige denn, was er getan hatte. Seine Frau wollte es ihm nicht sagen. Aber er bemerkte es in ihren Augen. Und er sah die zertrümmerten Teller. Die abgerissene Türklinke. Die umgefallene Vase. Roch den Urin, spürte die Nässe im Schritt.
Aus der Küche drang Gemurmel herüber, die Wände waren dünn. Sie hatten sparen müssen, als sie das Haus gebaut hatten. Der einzige Luxus war die kleine Sauna im Keller, seine Frau hatte sie sich damals gewünscht. Benutzt hatte sie das Ding seit Jahren nicht mehr, jetzt stapelten sich dort die Kartons mit Rüdigers Sachen.
Er kniff die Augen zusammen. Wenn er bei sich war, übte er. Trainierte seinen Kopf, löste Aufgaben, konzentrierte sich.
Drei mal vier ist zwölf. Die Wurzel aus vier ist zwei. Sechs durch zwei ist drei. Sieben minus zwei ergibt fünf.
Das war einfach, Kinderkram. Im Moment jedenfalls. Jetzt ging es ihm gut, aber wie lange würde das so bleiben? Ein paar Stunden? Minuten? Und dann?
Er musste Schluss machen, solange es noch ging.
Es würde nicht besser werden. Sein Hirn löste sich auf. Ein löchriger Schwamm, der sich selbst auffraß. Manchmal glaubte er, ein Knistern in seinem Kopf zu hören, das waren die Zellen, die eine nach der anderen abstarben, er konnte es regelrecht riechen, ein übler Gestank nach verbranntem Gummi.
Es war unumkehrbar. Irreversibel, hatte der Arzt erklärt. Eine Tatsache, in Fels gemeißelt wie das Einmaleins, ein Fakt, genauso sicher, wie drei mal vier elf ergab, er konnte …
Schröders Vater stöhnte leise.
Drei mal vier ergab doch
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