Zorn - Wo kein Licht
Bürgersteig.
Jeremias Staal fasste einen Entschluss.
Er hob die Tasse an die rissigen Lippen und trank. Der Kaffee war kalt. Er stand auf und hinkte zum Ausgang. Die Tür war schwer, seine Rippen schmerzten, als er sie aufzog. Draußen war es vergleichsweise hell, er schwankte ein wenig und schloss geblendet die Augen.
Im Hauseingang gegenüber löste sich eine Gestalt aus dem Schatten.
Staal hinkte los in Richtung Marktplatz. Im Moment fühlte er sich sicher, er sah aus wie ein unrasierter Penner mit fettigem Haar, einer von vielen, die nicht wussten, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten und tagsüber ziellos durch die Stadt streiften. Es würde noch ein paar Stunden hell sein, danach musste er sich etwas Neues einfallen lassen. Er konnte nur hoffen, dass die Schmerzen nicht schlimmer wurden. Und dass der andere seine Spur verloren hatte.
In beiden Punkten hatte er sich geirrt.
*
Als sie am späten Nachmittag gemeinsam im Büro saßen, war die Welt des Claudius Zorn wieder in Ordnung. Die dienstliche jedenfalls. Sein Privatleben und das, was nach Feierabend auf ihn wartete, die Unsicherheit, die Zweifel, die Angst um Malina, die Wut auf Hermann, den Sojakeimfresser mit dem bekloppten Hütchen, das alles hatte er tief in der hintersten Schublade seines Kopfes vergraben, abgeriegelt, zugeschlossen und schwarz angepinselt.
Er wollte nicht daran denken, die Arbeit sollte ihn ablenken. In den letzten beiden Tagen hatte das nicht funktioniert, doch jetzt war Schröder wieder da, saß wie gewohnt an seinem Platz gegenüber und allein seine Anwesenheit war tröstlich. Irgendwie.
Zorn hockte an seinem Schreibtisch und tat, als wäre er mit seinem Computer beschäftigt. Sein Rechner war aus, der Bildschirm schwarz, stattdessen blinzelte er ab und zu über den Rand seines Monitors und beobachtete, wie Schröder sich konzentriert durch den chaotischen Aktenberg wühlte, den Zorn ihm mit der beiläufigen Bemerkung, Schröder solle sich das mal eben kurz angucken, auf den Schreibtisch geknallt hatte.
Das war vor drei Stunden gewesen. Zwischendurch war Zorn immer wieder zum Rauchen gegangen, jedes Mal, wenn er zurück ins Büro kam, hatte er fasziniert beobachtet, wie aus dem Haufen mit den Ergebnissen seiner vergeblichen Bemühungen der letzten Tage allmählich zwei säuberlich geordnete Papierstapel entstanden.
Schröder lehnte sich zurück, spitzte die Lippen und stieß einen leisen Seufzer aus. Ein Zeichen, dass er einen Entschluss gefasst hatte.
Zorn schob ein paar Papiere hin und her.
»Ist was?«
»Ich habe nachgedacht.«
Ich auch, dachte Zorn. Zwei volle Tage lang, aber gebracht hat’s nix.
»Ach«, sagte er und hackte wahllos auf seine Tastatur ein. Das, hoffte er, würde wenigstens so klingen, als sei er beschäftigt. »Und?«
»Da ist ganz schön was zusammengekommen, ich hab’s mal ein bisschen geordnet.«
Zorn tippte weiter. Das Geräusch beruhigte ihn irgendwie.
»Hier«, Schröder deutete auf den linken Aktenstapel, »haben wir alles, was Grünbein, den toten Banker betrifft. Das Wichtigste jedenfalls. Und hier«, seine Hand wanderte nach rechts, »ist das, was wir über den Unfall auf der Hochstraße haben. Ich hab’s nur kurz überflogen, aber es gibt da ein paar Sachen, die mir aufgefallen sind.«
Zorn wurde hellhörig.
»Dann schieß mal los.«
»Fangen wir mit Grünbein an. Wir wissen jetzt definitiv, dass jemand in der Wohnung war. Ich habe noch mal mit der Kriminaltechnik telefoniert, es gibt Einbruchspuren, entweder von einem Nachschlüssel oder einem Spezialwerkzeug. Der Einbrecher hat Handschuhe benutzt, die Abdrücke sind überall in den Zimmern verteilt, vor allem am Schreibtisch. Dort saß er wohl und hat die Dinge auf dem Tisch penibel angeordnet. Leider gibt es keine DNA-Spuren, nach den bisherigen Ergebnissen jedenfalls. Der Mann wusste, was er tat. Er hat etwas gesucht, und wahrscheinlich fühlte Grünbein sich verfolgt.«
»Da waren wir schon, Schröder. Und wir haben noch immer keinen Beweis, dass Grünbein tatsächlich bedroht wurde.«
»Außer sein Verhalten, Chef.«
»Das haben wir ebenfalls schon durchgekaut.«
» Yes. Apropos durchgekaut: Da wäre noch Grünbeins Mageninhalt. Er hat Pizza gegessen, kurz vor seinem Selbstmord. Unter dem Bett lag eine leere Schachtel, er war also zu Hause. Aber da ist noch mehr.« Schröder lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte verträumt an die Decke. Unwillkürlich folgte Zorn
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