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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Oben, im ersten Rang, sackte der Lichttechniker hinter seiner Glasscheibe über dem Pult zusammen.
    Im Saal wurde es dunkel.
    Panik breitete sich aus, die ersten Rufe nach einem Arzt wurden laut. Niemand ahnte, was geschehen war, doch die Menschen drängten zum Ausgang, ins Freie, an die Luft, die Schwächeren stürzten, die Stärkeren trampelten über sie hinweg, Arme wurden gebrochen, Finger gequetscht, Tische, Stühle kippten um, teure Abendkleider wurden zerrissen, Frauen riefen nach ihren Männern, Männer suchten ihre Frauen, es roch nach Schweiß, Bier, kaltem Braten und nackter, animalischer Angst. Einige rannten nach unten, vorbei an den Garderoben, der Herrentoilette, wo der Polizeipräsident in einer Ecke leblos in seinem Erbrochenen lag.
    Dann wurden die Notausgänge geöffnet. Luft strömte in den Saal, ein paar Besonnene mahnten zur Ruhe, das Neonlicht wurde eingeschaltet.
    Die, die im Saal geblieben waren, standen da, verwirrt, hilflos, manche weinten, fast zweihundert Menschen, eine verlorene, herrenlose Schafherde.
    Dann kamen die Notärzte.
    Insgesamt waren über vierhundert Personen auf dem Fest gewesen. Fast alle hatten vom Büfett gegessen, drei langen Tafeln mit hunderten Salaten, kalten Platten, Nudelgerichten, Obsttellern und dampfenden Fleischschüsseln.
    Acht Menschen hatten sich für einen der Teller mit den vergifteten Würstchen entschieden. Darunter der Polizeipräsident, die Schwester eines Staatssekretärs und der kabarettistische Bauchredner, der eigentlich am nächsten Tag für eine Silberhochzeit gebucht war.
    Niemand von ihnen überlebte.
    Auch Wachtmeister Kusch nicht. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
    *
    Jeremias Staal fror.
    Das Fieber war stärker geworden, das Schlucken tat weh, sein Körper war eine einzige, brennende Wunde. Am schlimmsten waren die Schmerzen im Bein, da, wo er mit dem Knie gegen das Lenkrad geprallt war.
    Staal war nicht der Erste, der in der verlassenen Einraumwohnung am Rand der Neustadt kampierte. Der Block stand komplett leer, ein zehngeschossiger Betonklotz mit geborstenen Fensterscheiben und einer Fassade, deren ursprüngliche Farbe nur noch an einigen Stellen zu erahnen war.
    Im dritten Stock hatte Staal die fleckige Matratze entdeckt, sie war feucht und roch nach Urin, aber es war besser als nichts. In einer Ecke hatte er zwischen zerbeulten Töpfen und einem Haufen alter Zeitungen eine Kerze gefunden, doch er hatte sie nicht anzünden können, Streichhölzer oder ein Feuerzeug besaß er nicht.
    Jetzt lag er im Halbdunkel, das Fieber brauste in seinem Kopf.
    Den ganzen Tag war er auf den Beinen gewesen, war den Boulevard zwischen Markt und Bahnhof entlanggelaufen, immer wieder, in der Öffentlichkeit hatte er sich sicher gefühlt. Trotzdem war da ständig eine unbestimmte Ahnung gewesen, ein Kribbeln im Nacken, als ob er beobachtet würde. Doch wenn er sich umgesehen hatte, war ihm nichts aufgefallen. Von seinem letzten Geld hatte er sich zwei Flaschen Rotwein gekauft, billigen Fusel, der ihm helfen würde, die Nacht zu überstehen.
    Noch zwei Tage, dann würde sich die Lage etwas beruhigt haben. So lange musste er durchhalten, danach würde er in seine Wohnung gehen. Geld holen, den Ausweis und Medikamente.
    Er öffnete eine Flasche, trank in langen, gierigen Zügen. Spürte, wie der Alkohol seinen Körper wärmte und sank zurück auf die Matratze.
    Die Wogen würden sich glätten, bald. Er wusste, dass er gesucht wurde, sein Name stand in den Zeitungen, doch die Polizei war sein geringstes Problem.
    Es ging um den anderen.
    Staal hatte keine Ahnung, wer der andere war, sicher war nur, dass er ihn verfolgte, dass er genau zu wissen schien, wo er Staal zu suchen hatte. Vor drei Tagen war der erste Anruf gekommen, er hatte in seinem Büro in dem kleinen Baucontainer gesessen, ein paar Sekunden hatte er dem stummen Atmen des Anrufers gelauscht, dann hatte er aufgelegt. Ein Spinner, hatte er gedacht, oder jemand, der sich verwählt hat. Kurz darauf hatte er den Zettel hinter der Windschutzscheibe des Mitsubishi gefunden.
    ICH SEHE DICH, JEREMIAS STAAL.
    Der nächste lag in seinem Briefkasten, ebenfalls ein fein säuberlich zusammengefalteter Computerausdruck in schwarzen Großbuchstaben.
    DU KANNST DICH NICHT VERSTECKEN.
    Darunter war etwas gezeichnet gewesen, hastig hingeworfene Striche, mit Kugelschreiber hinzugefügt: ein Kreis, umgeben von einem Strahlenkranz, darin ein Gesicht mit heruntergezogenem Mund, wie ein trauriger Smiley. Eine weinende

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