Zorn - Wo kein Licht
nicht.
Zehn
Was die Presse betraf, hatte der Anschlag auf den Polizeiball zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt stattgefunden. Die Ausgaben für den nächsten Tag gingen eine halbe Stunde vor Mitternacht in Druck, und so ratterten die Maschinen bereits auf Hochtouren, als die ersten Journalisten am Kongresszentrum eintrafen.
Gegen zwei Uhr morgens erschien auf der Webseite des Boulevardmagazins die etwas übermotivierte Schlagzeile vom MASSAKER IM KONGRESSZENTRUM, während die Printausgabe zum Verdruss des Chefredakteurs am nächsten Morgen in fetten Lettern fragte : WAR HITLER EPILEPTIKER? Dies interessierte zu diesem Zeitpunkt ausnahmsweise niemanden, ebenso wenig wie der Leitartikel des Mitteldeutschen Tageblattes, in dem es um die demnächst anstehende Silberhochzeit des Polizeipräsidenten ging, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Stunden mit fortgeschrittener Leichenstarre in der Rechtsmedizin lag.
Ein Sonderkommando wurde gebildet, noch in der Nacht trafen die ersten Spezialkräfte aus der Landeshauptstadt ein. In einer eilig einberufenen Pressekonferenz wurde erklärt, was man im Moment wusste: nichts. Außer, dass sämtliche Todesopfer an ein- und demselben Gift gestorben waren.
Zorn war um vier Uhr morgens aus dem Bett geklingelt worden, drei Stunden später saß er mit Schröder im Büro und rührte verdrossen in seinem Kaffee.
»Im Moment lässt sich das alles schwer einordnen«, erklärte Schröder gerade. »Niemand kann sich erklären, was hinter dem Ganzen steckt. So, wie es aussieht, war etwas am Büfett vergiftet, wahrscheinlich ein Teller mit Würstchen.« Er trug noch immer den cremefarbenen Anzug, die Fliege hatte er abgenommen und die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet.
Zorn schüttelte verwirrt den Kopf.
»Wenn das stimmt, hätte jeder davon essen können.«
»Ja«, nickte Schröder. Er sah müde aus. »Du, ich oder Frieda Borck.«
Es grummelte in Zorns Magen. Das konnte daher rühren, dass er bereits den vierten Kaffee trank. Wahrscheinlich aber lag es an der Vorstellung, dass er, Claudius Zorn, jetzt ebenfalls in einem Plastiksack im rechtsmedizinischen Institut hätte liegen können. Ein Zufall hatte ihn davor bewahrt, ein kleiner, flüchtiger Moment, in dem er entschieden hatte, nach Hause zu gehen. Claudius Zorn mochte Würstchen.
»Was war das für ein Gift?«, fragte er.
»Natriumfluoracetat, ein Mittel zur Bekämpfung von Nagetieren, schwer, aber nicht unmöglich zu beschaffen. Genaueres wissen wir noch nicht. Wir müssen auf den Laborbefund warten, lange kann das nicht mehr dauern. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass das alles ein Unfall war, oder ein Versehen.«
Zorn stieß ein freudloses Lachen aus.
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Nein, Chef.«
»Wie viele Menschen waren auf dem Fest?«
»Fast vierhundert.«
»Dem Täter war völlig egal, wen es trifft. Er konnte das nicht planen. Wer macht so was? Und warum?« Zorn rieb sich den schmerzenden Magen. »Ich sehe einfach keinen Sinn.«
»Vielleicht besteht ja gerade darin der Sinn.«
»Wie meinst du das?«
»Dass es sinnlos ist.«
»Jeder Mensch hat Gründe für das, was er tut, Schröder. Jeder.«
»Wenn er gesund ist. Ein Psychopath kümmert sich nicht um Konsequenzen.«
»Ein Verrückter, der wahllos tötet? Das wäre ein bisschen einfach, oder?«
»Wahrscheinlich.« Schröder fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Als er aufblickte, waren seine Augen gerötet. »Vielleicht wollte jemand einfach nur Chaos schaffen. Gott spielen, oder von irgendetwas ablenken, ich weiß es nicht. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, das herauszufinden, Chef. Darum kümmert sich die Sonderkommission.«
Und das ist gut so, dachte Zorn.
Draußen war es hell geworden. Schröder stand auf und knipste das Licht aus, dann ging er zum Fenster. Sein Gesicht wirkte bläulich im Morgendunst, ein kantiger Zug um den Mund ließ ihn hart erscheinen.
»Er konnte Helmut Kohl nachmachen«, sagte er leise.
Zorn verstand nicht.
»Wer?«
»Der Bauchredner. Ohne den Mund zu bewegen, der ganze Saal hat gelacht.« Schröder schüttelte den Kopf. »Niemand konnte ahnen, dass er in ein paar Stunden tot sein würde. Und einen neuen Polizeipräsidenten brauchen wir jetzt auch.«
»Ich hatte mich gerade mit Wachtmeister Kusch vertragen.« Zorn dachte an den bulligen Polizisten und das Gefühl, als sei er in einen Schraubstock geraten, als sie sich die Hand gegeben hatten. »Er war ein anständiger Kerl, glaube
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