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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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ich.«
    »Das war er, Chef.«
    Sie schwiegen eine Weile.
    »Wer war eigentlich diese dicke Frau, vor der du mich gerettet hast?«, fragte Zorn.
    »Die unbedingt mit dir tanzen wollte?«
    Zorn nickte stumm.
    »Das war Kollegin Rothe, sie arbeitet im Archiv. Eine eindrucksvolle Person.«
    »Du hast ihr irgendwas ins Ohr geflüstert.«
    Schröder sah Zorn ernst an.
    »Ich habe ihr gesagt, dass du schwul bist.«
    »Ach.«
    »Und dass dein Freund dich gerade verlassen hat, weswegen du ein wenig neben der Spur bist.«
    »Hervorragende Ausrede«, murmelte Zorn, der selbst nicht wusste, ob er lachen oder wütend werden sollte. Er entschied sich für keines von beidem. Das alles war jetzt nebensächlich.
    Schröder sah weiter aus dem Fenster. Die Wolken hingen tief am Himmel, ein Windstoß trieb abgestorbenes Laub über den Parkplatz.
    »Sieht aus, als würde ein Sturm aufkommen«, murmelte Schröder.
    »Ja«, nickte Zorn müde. »Sieht so aus.«
    *
    Jeremias Staal erwachte vom Pochen des Blutes, das in fiebrigen Wellen durch seinen Schädel gepumpt wurde. Er hatte gehofft, dass der Schlaf ihm neue Energie geben würde, doch es kam ihm vor, als wäre in der Nacht die letzte Kraft aus seinem Körper gesogen worden wie aus einem ausgetrockneten Schwamm.
    Regen prasselte gegen das Fenster. Staal öffnete die Augen einen Spalt, schloss sie aber sofort wieder, er wollte nichts sehen von all dem Dreck, den rostigen Heizungsrohren, dem schuttübersäten Fußboden und den schimmeligen Tapeten, die in Fetzen von den klammen Wänden hingen.
    Sein Herz schlug in kurzen, heftigen Stößen, der Schmerz pulsierte im Takt durch seinen Körper.
    Staal biss die Zähne zusammen. Er musste die Kontrolle behalten, wenigstens in Gedanken.
    Einen Plan. Er brauchte einen Plan.
    Hier konnte er nicht mehr lange bleiben, ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Medikamente. Die Schmerzen waren nebensächlich, er hatte gelernt, damit umzugehen. Nächsten Monat wurde er vierzig, in den letzten Jahren hatte er ein paar Kilo zugenommen, doch auf seinen Körper hatte er immer geachtet, er hatte trainiert, nicht, weil er gut aussehen wollte, sondern weil er funktionieren musste. Wie eine Maschine, die ständig einsatzbereit zu sein hat.
    Er dachte an das Morphium, das er hinten im Schreibtisch versteckt hatte. Vor einem Dreivierteljahr war er beim Arzt gewesen, hatte sich durchchecken lassen, eigentlich eine Routineuntersuchung. Dann hatte er die Diagnose erhalten: Verdacht auf chronische myeolische Leukämie, hatte der Doktor mit unbewegtem Gesicht erklärt, man müsse weitere Tests abwarten, es könne sich alles noch zum Guten wenden. Staal, der nie an das Gute geglaubt hatte, war wortlos aufgestanden und gegangen. Hatte sich Medikamente besorgt, Schmerzmittel, Morphium, Antibiotika, alles, was er hatte auftreiben können. Im Krankenhaus würde er nicht sterben, hatte er sich gesagt, und bald, ein paar Wochen später, hatte sich herausgestellt, dass dies auch nicht geschehen würde. Er war kerngesund, eine Fehldiagnose, das Labor hatte sich geirrt. Das Schicksal hatte den Zufallsgenerator angeworfen, Staal hatte gewonnen.
    Die Medikamente hatte er behalten. Jetzt brauchte er sie.
    Er richtete sich auf, zog das linke Hosenbein hoch und tastete nach dem verletzten Bein. Zischend sog er die Luft ein, als er den schartigen Riss unter dem Knie bemerkte, die Wunde hatte sich entzündet, ein blauschwarzer Fleck zog sich bis hinunter zum Schienbein, geronnenes Blut klebte am Strumpf. Vorsichtig versuchte Staal, das Bein anzuwinkeln, er stieß einen leisen Schrei aus, als der Riss sich öffnete und der Knochen weißlich unter der eitrigen Haut hindurchschimmerte.
    Er sank wieder zurück und starrte an die Decke.
    Noch zwei, drei Jobs, hatte er gedacht, dann würde er sich zur Ruhe setzen, vielleicht auf Kuba oder den Kanaren, irgendwo ein unauffälliges, ruhiges Leben führen, da, wo ihn niemand suchen würde, Geld hatte er genug, er musste nur …
    Staal runzelte die Stirn.
    Etwas war anders.
    Ein Luftzug, der gestern nicht dagewesen war. Er kam von draußen, vom Flur, ein leichter, nach Beton und nasser Wäsche stinkender Wind, der seinen eigenen Geruch nach saurem Schweiß überdeckte.
    Staal drehte den Kopf. Rechts von ihm war die Tür.
    Sie war angelehnt.
    Hatte er sie nicht geschlossen?
    Natürlich hatte er das, er hasste offene Türen.
    Er schniefte, zog den Rotz hoch und richtete sich auf den Ellbogen auf. Dann bemerkte er den Zettel, der mit einer Reißzwecke am

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