Zorn - Wo kein Licht
Gestrüpp aus Personallisten, Vermisstenmeldungen und Prozessakten, schrieb Mails, telefonierte mit der Landeshauptstadt, recherchierte im Intranet der Landespolizei, knabberte Kekse und trank Kamillentee. So bemerkte er nicht, dass die Dämmerung langsam einsetzte, und auch nicht, dass Zorn irgendwann nach seiner Jacke griff und nach Hause ging.
Schröder arbeitete.
Beharrlich, konzentriert und leise. Wie ein Bluthund, der eine Fährte aufgenommen hat.
Das war es, was er am besten konnte.
*
»Wir haben einen neuen Namen, Chef.«
Zorn saß auf seinem Sofa, die Jaco-Pastorius-Platte lief in voller Lautstärke, krachend dröhnte die Musik durch das kleine Zimmer wie ein führerloser Hochgeschwindigkeitszug. Das hatte nichts mit Masochismus zu tun, sondern mit purer Verzweiflung. Zorn hatte sie aufgelegt, um nicht weiter grübeln zu müssen. Tagsüber, wenn er bei der Arbeit war, dachte er nicht an Malina. Zu Hause war es anders. Sie war überall, er konnte tun, was er wollte. Der Lärm lenkte ihn ab. Ein bisschen jedenfalls.
»Moment.«
Er drehte die Musik leiser. Das Handy hatte er nicht gehört, aber am rhythmischen Blinken erkannt, dass Schröder anrief.
»Also?«
»Die beiden Vermisstenmeldungen, Chef. Der verschwundene Richter war am Oberlandesgericht beschäftigt. Vor einen halben Jahr gab es einen Prozess gegen einen gewissen Elias de Koop, einen Finanzmakler. Er wohnt in einer Villa an der Flusspromenade. Rat mal, wer ihn verteidigt hat.«
»Ich hab keine Lust zu raten, Schröder.« Zorn griff müde nach einer Zigarette. »Es war …«
»… der vermisste Anwalt.«
»Sag ich doch. Das erkenne sogar ich, auch wenn ich nur den Intellekt einer Kaulquappe hab.«
»Nesselqualle, Chef. Du sagtest Nesselqualle.«
»Wie auch immer.«
Neben dem Aschenbecher lag ein Ohrring, eine winzige Perle an einer silbernen Kette. Zorn nahm ihn in die Hand, ließ ihn nachdenklich durch die Finger gleiten. Malina hatte immer etwas liegen lassen, Kleinigkeiten, sie waren überall in der Wohnung verstreut, Malinas Unordnung hatte Zorn gestört, jetzt erinnerte er sich, dass sie ihr Haar immer zu einem kurzen Zopf band, wenn sie diesen Ohrring trug, die Perle leuchtete an ihrem Hals, es sah aus, als ob …
»Was ist los, Chef?«
»Was soll sein?«
»Du klingst irgendwie traurig.«
Das bin ich, wollte Zorn sagen. Ich vermisse Malina, ich habe Angst, dass sie nicht wiederkommt, dass ich sie endgültig verloren hab, und ich weiß nicht einmal, warum das alles passiert ist.
»Es ist nichts«, murmelte er. »Ich bin nur müde.«
Und traurig, setzte er in Gedanken hinzu. Du hast recht, Schröder, wie immer. Aber das geht nur mich was an.
Ein Donnerschlag ließ das Fenster erbeben. Hagelkörner krachten wie Kieselsteine gegen die Scheibe, die Gardine bewegte sich, es schien, als schwanke das riesige Gebäude. Der Sturm heulte, zerrte an den Mauern wie ein tollwütiger Drache.
»Schlaf ein bisschen«, sagte Schröder. »Morgen sollten wir diesen Elias de Koop befragen, ich suche noch raus, was wir über ihn haben.«
Zorn sah auf die Uhr: Kurz nach acht. Wie lange war Schröder jetzt auf den Beinen? Zwanzig Stunden? Mindestens.
Er nickte stumm und legte auf. Überlegte einen Moment und wählte Malinas Nummer. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, doch er musste sie sehen. Oder wenigstens ihre Stimme hören.
Ihr Handy war aus.
Scheiße, dachte Zorn.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
*
Zehn Uhr abends. Der Orkan wütet über der Stadt.
Blitze zucken, die Platanen im alten Solbad biegen sich, keifend tobt der Sturm durch den verlassenen Park. Blätter, Papierfetzen und abgebrochene Zweige wirbeln durch die Nachtluft, Fensterläden hämmern gegen die lädierten Mauern, ein dicker Ast bricht und streift die Wand des Badehauses. Die morsche Regenrinne löst sich und fällt krachend zu Boden.
Der alte Mann in der Badezelle zuckt zusammen.
Er weiß nicht, seit wann er hier gefangen gehalten wird. Das schmale Fenster unter der Decke ist mit Brettern vernagelt, kein Tageslicht dringt in die enge Kammer. Die einzige Lichtquelle im Raum ist eine Stabtaschenlampe, eine Maglite aus schwarzem Aluminium, sie liegt neben seinem Kopf, auf dem Rand der Badewanne. Ihr Strahl fällt auf einen Zettel an der Wand gegenüber.
DU WIRST GERICHTET WERDEN .
Darunter eine Zeichnung, ein weinendes Gesicht, umgeben von einem Strahlenkranz.
Das ist die einzige Information, die er hat. Als er zu sich kam, trug er eine Kapuze über dem
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