Zorn - Wo kein Licht
von weit, weit weg. Zorn streckte die Hand aus, tastete neben sich, dahin, wo Malina immer gelegen hatte, er begriff noch, dass er allein war, auf dem Sofa, dass sie wohl nie wieder neben ihm liegen würde, nie mehr, er drehte sich auf die Seite, schniefte im Schlaf, Speichel lief aus seinem Mund, das Kopfkissen wurde nass.
Das Letzte, was Claudius Zorn sah, war Hermanns ungläubiger Blick, die großen Augen, das Blut, das zwischen seinen Fingern hindurchtropfte und sich unter ihm auf dem Teppich verteilte.
Und er hörte Malinas Stimme.
Du siehst alt aus, wenn du wütend bist.
Ich bin alt, murmelte Zorn, das Gesicht ins Kissen gepresst.
Dann fügte er trotzig hinzu:
Na und?
*
Seufzend griff Frieda Borck zum Telefon und wählte die Durchwahl in der Landeshauptstadt. Es würde ein unangenehmer Anruf werden, doch es ließ sich nicht vermeiden. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»Ingo Foja.«
Sie mochte diese Stimme nicht. Ganz und gar nicht.
»Frieda Borck«, erklärte sie knapp. »Es geht noch einmal um die Prozessakten.«
»Die sind unterwegs, Frieda. Sie müssten morgen bei euch eintreffen.«
Sie hatten zusammen studiert. Und sie waren ein Paar gewesen, ein paar Wochen nur, doch Ingo Foja schien sie nicht vergessen zu haben. Die Staatsanwältin dachte ungern an diese Zeit zurück, Foja war ein Angeber, ein Schwätzer, der sie damals vor allem durch seine charmante Art und sein gutes Aussehen geblendet hatte. Er trug ein kleines Kinnbärtchen, das sie unglaublich sexy gefunden hatte. Ja, sie war jung gewesen und dumm. Allerdings, die Zeiten hatten sich geändert: Jetzt arbeitete sie als Staatsanwältin, er war Beamter in der Landeshauptstadt. Ein kleines Rädchen in einer riesigen Maschine, ersetzbar, aber bis ins Knochenmark durchdrungen von der eigenen Wichtigkeit.
»Gut«, nickte sie. »Der Prozess wurde im April beendet, der Angeklagte hieß Elias de Koop.«
»Das bemerktest du bereits. Ich bin nicht senil.«
Foja ließ ein meckerndes Lachen ertönen. Sie verzog das Gesicht und hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Es ist wirklich dringend«, bat sie.
Das schien er zu genießen.
»Ich tu, was ich kann«, erklärte er gönnerhaft. Sie sah deutlich vor sich, wie er in einem kleinen Büro hockte und in den Zähnen pulte. »Was gibt’s sonst Neues in der Provinz?«
»Wir haben viel zu tun«, erwiderte sie und hoffte, er würde nicht nachfragen.
Das tat er auch nicht.
»Wir auch. Die Wahlen zum Betriebsrat stehen an, ich habe mich aufstellen lassen.«
»Viel Glück. Und sonst?«
Sie zwang sich, interessiert zu klingen. Nein, sie mochte Foja nicht. Doch sie musste nett bleiben, er konnte irgendwann wichtig werden. Es ging ihr nicht um persönliche Vorteile, so etwas hatte sie noch nie sonderlich interessiert. Ihre Verbindungen mussten funktionieren. Die Arbeit allein zählte.
Sie nahm einen Stift und begann auf einem Zettel herumzukritzeln.
»Ansonsten der übliche Bürokram, du kennst das ja.« Foja klang erfreut. Er hatte sich schon immer gern reden gehört. »Ach ja«, sagte er, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, »einer unserer Ermittler ist verschwunden, vor drei Wochen.«
Frieda Borck malte weiter. Auf dem Zettel erschien ein Galgen.
»Urplötzlich, von einem Tag auf den anderen. Ich kenne ihn nur zufällig, ein eingebildeter Schnösel, ich konnte ihn nie leiden.«
Wieder dieses meckernde Lachen.
Unter dem Galgen baumelte jetzt ein Strichmännchen. Sie zögerte, dann malte sie ein kleines Kinnbärtchen in das runde Gesicht.
»Ein Vietnamese, oder ein Chinese, ich weiß nicht genau, die sehen ja alle gleich aus.«
Frieda Borck hielt inne.
»Wie heißt er?«
Foja nannte einen Namen.
Ein Knacken. Die Spitze des Bleistiftes brach ab.
»Sag das noch mal.«
»Jan Czernyk«, wiederholte Foja verwundert. »Warum fragst du?«
Doch da hatte Frieda Borck schon aufgelegt.
*
Der dicke Schröder dachte nach.
Die Sonne schien durch das Bürofenster, er hatte die Gardinen halb zugezogen, weil ihn das grelle Herbstlicht blendete. Auf dem Schreibtisch lag ein zerknittertes Stück Papier, das die Kriminaltechnik in Klarsichtfolie verpackt hatte.
DU BIST TOT, JEREMIAS STAAL. DU WEISST ES NUR NOCH NICHT.
Sie hatten den Zettel in der Manteltasche von Staals Leiche gefunden. Verwertbare Fingerabdrücke gab es nicht, die Schrift stammte von einem handelsüblichen Computerausdruck. Eine Drohung, natürlich. Wahrscheinlich von Staals Mörder, der diese Ankündigung
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