Zorn - Wo kein Licht
doch jetzt, Stunden später, waren ihre Zweifel und die Verunsicherung einer dunklen, heißen Wut gewichen.
Ruhelos lief sie auf und ab, ging in die Küche, ins Bad, zurück ins Wohnzimmer, dann trat sie auf den Balkon, beugte sich über das Geländer und sah zum hundertsten Mal hinab auf die Straße. Der Tag war warm gewesen, doch jetzt, da die Sterne am Himmel standen, war der kommende Winter deutlich zu spüren. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Nichts.
Sie schlug mit der flachen Hand auf das Geländer und wandte sich wieder der Wohnung zu. Plötzlich stieß sie einen spitzen Schrei aus.
In der Balkontür stand Jan Czernyk.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, Frieda.«
Sein Gesicht lag im Schatten, doch sie glaubte zu erkennen, dass er lächelte.
Das war zu viel.
Frieda Borck hob die Hand und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht.
*
»Es gibt Gulasch mit Spätzle!«, rief Schröder von nebenan.
Zorn saß an einem Tisch direkt unter dem Dachfenster. Alles in diesem Wohnzimmer schien eine Nummer zu klein, die schmale Doppelcouch, die Stereoanlage und auch die Öffnung zur Küche, vor der ein bunter Perlenvorhang baumelte. Ein Bücherregal reichte bis unter die niedrige Decke, daneben tickte eine altmodische Standuhr. Der Tisch war bereits gedeckt, Schröder hatte Servietten, Besteck, zwei Kristallgläser und einen Kerzenständer auf der weißen Decke verteilt.
Zorn hatte Hunger. Er nahm ein Messer und beobachtete, wie sich das Kerzenlicht in der Schneide spiegelte.
»Zehn Minuten, dann können wir essen!« Nebenan hantierte Schröder mit den Töpfen. »Hat Frieda Borck dich erreicht?«
Zorn legte das Messer zurück auf den Tisch.
»Nein, wieso?«
Der Vorhang teilte sich. Schröder erschien, eine geblümte Nylonschürze spannte über seinem Bauch. Er wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und nahm Zorn gegenüber Platz.
»Es geht um Jan Czernyk.«
»Was soll mit ihm sein?«
»Er hatte ihr gesagt, dass er Urlaub hat.«
»Mir auch«, nickte Zorn.
»Jetzt hat sie herausgefunden, dass er seit Wochen nicht bei der Arbeit erschienen ist.«
»Echt?«, wunderte sich Zorn. »Hat sie gesagt, warum?«
»Sie weiß es nicht.«
»Und was wollte sie dann von dir?«
Schröder nahm eine geschliffene Kristallkaraffe und füllte Zorns Glas.
»Ich bin nicht sicher. Sie schien völlig ratlos zu sein.«
»Czernyk ist nicht der Typ, der einfach so verschwindet.« Zorn nippte an seinem Glas. Der Wein war kühl, er schmeckte nach Sommer und frisch geschälten Aprikosen. »Eigentlich habe ich keine Lust, mir den Kopf von Frieda Borck zu zerbrechen. Wir haben genug zu tun.«
» Ich habe genug zu tun«, korrigierte Schröder.
Zorn horchte auf.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine«, sagte Schröder und stützte die Ellbogen auf den Tisch, »dass du mich die ganze Arbeit allein machen lässt.«
»Das tu ich doch immer!«, entfuhr es Zorn. Im nächsten Moment hätte er sich auf die Zunge beißen mögen, doch es war zu spät.
Schröder lächelte vielsagend.
»Apropos«, Zorn wechselte sicherheitshalber das Thema, »gibt’s was Neues vom Polizeiball?«
»Bisher nicht. Die Sonderkommission muss ein paar hundert Leute überprüfen. Ich möchte nicht in der Haut der Kollegen stecken, es ist eine Sisyphusarbeit. Theoretisch könnte jeder, der an diesem Abend da war, das Büfett vergiftet haben. Die Ermittlungen werden noch eine ganze Weile dauern, wenn die Sonderermittler denn überhaupt jemals etwas herausbekommen. Wie hattest du sie noch mal genannt?«
»Schnösel.«
»Richtig, das hatte ich vergessen.«
»Und ich bleibe dabei.«
»Obwohl du keinen von ihnen kennst?«
»Ich stehe zu meinen Vorurteilen, Schröder.«
»Das weiß ich. Aber ich habe dich nicht eingeladen, um mit dir über unsere Arbeit zu reden. Auch nicht über deine Vorurteile.«
»Worüber dann?«
Schröder stand auf.
»Über dich. Und jetzt muss ich in die Küche, sonst zerkochen mir die Spätzle.«
*
»Wo warst du, verdammt?«
Wieder wollte sie zuschlagen. Czernyk fasst sie an den Oberarmen und drängte sie sanft ins Zimmer. »Setz dich«, sagte er leise. »Da draußen holst du dir den Tod.«
Widerstrebend ließ sie sich zum Sofa führen. Er nahm einen Stuhl, zog seinen Mantel aus und hängte ihn über die Lehne. Die Brille legte er auf den Tisch, sie hatte sie ihm aus dem Gesicht geschlagen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz.
»Erklärst du mir bitte, was los ist?«
»Muss ich
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