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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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zurückgezogen, es schien, als lächle der Tote, Zorn sah den fehlenden Schneidezahn, die grünlich schimmernde Haut, das geronnene Blut auf den Wangen. Und das, was nicht da war. Etwas fehlte.
    Die Augen.
    Dunkle Höhlen, je länger er hinsah, desto größer wurden sie. Er konnte den Blick nicht abwenden, seine Hand tastete über den Schreibtisch, suchte nach der Brille, fand sie, er setzte sie auf, wieder ab, wischte die Gläser am Hemd ab, dann entglitt sie ihm.
    Der Harndrang wurde übermächtig. Zorn spürte, wie ihm gleichzeitig siedend heiß und fürchterlich kalt wurde. Sein Körper schien unschlüssig, wie er reagieren sollte, auf den Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut, gleichzeitig lief ihm der Schweiß die Achseln hinab.
    »Okay«, murmelte Zorn. »Ich bin in meinem Büro. Es ist sechs Uhr morgens, Schröder ist nicht da. Auf meinem Platz sitzt eine Leiche, die nach alter Wurst riecht.«
    Das war nicht alles.
    Der Tote war nicht tot.
    Oder?
    Er bewegte sich.
    Der Stuhl rollte nach hinten, langsam, ganz langsam kam der Körper ins Rutschen. Die Wange schabte über die Tischplatte, das Ohr des Toten stoppte die Bewegung, allerdings nur kurz. Ungläubig staunend beobachtete Zorn, wie die Schreibunterlage weggeschoben wurde und lautlos zu Boden segelte, ein Klatschen, der Stuhl rollte gegen die Wand, die Leiche landete auf dem Teppich, zunächst auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, die leeren Augenhöhlen direkt auf Zorn gerichtet, traurig, fast ein wenig vorwurfsvoll. Ein Stöhnen, Luft entwich aus dem Körper, es klang wie ein defekter Blasebalg. Die Leiche kippte zur Seite und blieb direkt zu Zorns Füßen liegen.
    Er hüpfte zurück, stieß dabei ein Kieksen aus, es klang irgendwie weibisch, wie ein Teenager auf der Flucht vor einer haarigen Spinne.
    Das Jackett des Toten hatte sich geöffnet, das Hemd war aus der Hose gerutscht. Zorn sah den haarigen Bauch, einen großen Leberfleck unterhalb des Nabels. Eine Hand lag unter dem Körper, die andere deutete auf die Tür, als wolle er Zorn aus dem Zimmer weisen.
    Ein fast hörbares Klicken ertönte, als das Denkvermögen von Hauptkommissar Zorn endgültig aussetzte.
    An die nächsten Minuten sollte er sich später nicht mehr erinnern können. Wie in Trance verließ er das Büro, fuhr mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und ertappte sich plötzlich dabei, wie er mit den Knöcheln an die Scheibe der Pförtnerloge klopfte.
    Plong!
    »Guten Morgen, verehrter Kollege.«
    Der Pförtner, ein gutmütiger Beamter mit länglichem Gesicht und wirrem schwarzem Haarschopf, der ein wenig an eine Figur aus der Sesamstraße erinnerte (weswegen er von seinen Kollegen liebevoll Bert genannt wurde), sah verschlafen auf.
    »Ich störe nur ungern«, erklärte Zorn und hob entschuldigend die Hände. »Ist hier in den letzten Stunden ein Toter vorbeigekommen? Ungefähr eins fünfundsiebzig groß, dunkler Anzug, weißes Hemd?«
    Bert, der Pförtner, glotzte stumm.
    »Nein?« Zorn schüttelte nachdenklich den Kopf. Seine Augen flackerten. »Das ist ja doof. Vielleicht ist er ja zum Fenster reingeflogen?«
    Die Eingangstür glitt auf, zwei Streifenpolizisten traten ein, ihre Gesichter waren von der Kälte gerötet.
    »Guten Morgen, Jungs!«, flötete Zorn. »Na? Alles fit?«
    »Logisch«, brummte der eine, der andere warf ihm im Vorbeigehen einen misstrauischen Blick zu. Zorn sah ihnen nach, dann wandte er sich wieder an Bert, den Beamten in der Pförtnerloge. »Er hat eine Schnittwunde, hier.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals. »Und keine Augen. Hilft das weiter?«
    Der Pförtner schüttelte stumm den Kopf.
    »Auch nicht?« Zorn kratzte sich am Kopf. »Lassen Sie mich nachdenken, vielleicht fällt mir noch was ein. Ach ja!« Er trat dicht an die Scheibe, das Glas beschlug, als er weitersprach. »Er hat nur einen Schuh an! Ich wusste doch, dass ich was Wichtiges vergessen hatte! Ein Toter, keine Augen, schwarzer Anzug, nur ein Schuh. Sie sind sicher, dass Sie ihn nicht gesehen haben? Da war noch der Geruch, er hat schon ein bisschen gestunken, das muss Ihnen doch aufgefallen sein, Kollege!«
    Zorn schnüffelte vorwurfsvoll.
    Der Pförtner wollte etwas erwidern, doch Zorn plapperte weiter.
    »Er riecht nach alter Wurst«, rief er. »Wurst, verstehen Sie? Wurst!«
    Zorn deklamierte das Wort wie ein Schauspieler ein klassisches Gedicht.
    Wurrrrrst!
    Seine Stimme hallte durch das leere Foyer.
    Der Pförtner sah sich hilfesuchend um, dann griff er zum Telefon.
    Zorn

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