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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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überquert er die Straße. Die Uniformmütze hat er tief in die Stirn gezogen. Kurz wundert sich Zorn, warum der Mann keine Jacke trägt. Dann springt die Ampel auf Grün, er fährt an, zehn Sekunden später hat er den Uniformierten vergessen.
    Der Streifenpolizist steht unter einer Laterne und beobachtet, wie der Volvo in der Ferne verschwindet. Links, vom Bahnhof her, ist das Quietschen einer einfahrenden S-Bahn zu hören.
    Jan Czernyk schiebt die Uniformmütze aus der Stirn und läuft los. Kurz darauf ist er in einer Seitenstraße verschwunden, als hätte er nie existiert.

Achtzehn
    Müde schlich Zorn über den leeren Flur. Als er die Bürotür öffnete, fragte er sich, woher diese plötzliche Schlaflosigkeit kam, schließlich war er noch keine fünfzig, zu jung, um an seniler Bettflucht zu leiden.
    Ohne das Licht anzuschalten warf er die Jacke über den Garderobenständer, schnüffelte kurz und wunderte sich zunächst über den Geruch nach vergammelter Wurst und nassen Strümpfen. Dann fiel ihm auf, wie ungewöhnlich warm es war, fast wie in einer Sauna. Seine Brille beschlug, vorsichtig tastend ging er zum Fenster, um Kaffee zu kochen. Vom Parkplatz drang schwaches Laternenlicht herauf, wie durch einen Nebel erkannte er Schröders dunkle Silhouette hinter dem Schreibtisch. Zu Zorns Verwunderung saß er auf der falschen Seite.
    »Du sitzt auf meinem Platz«, knurrte Zorn. Er nahm die Glaskanne von der Heizplatte der Kaffeemaschine. »Was machst du eigentlich mitten in der Nacht hier?«
    Schröder antwortete nicht, eine Tatsache, die Zorn im Normalfall stutzig gemacht hätte. Zu dieser frühen (je nach Betrachtungsweise auch späten) Stunde allerdings arbeitete sein Hirn nur mit halber Kraft, weigerte sich, den Dienst aufzunehmen wie ein störrisches Maultier. So schlurfte er denn achselzuckend zum Waschbecken und öffnete den Wasserhahn.
    »Mann, hier stinkt’s echt wie im Raubtierhaus.« Das Wasser strömte in die Kanne, urplötzlich, wie aus heiterem Himmel, musste er pinkeln. Dringend.
    Klasse, jetzt werd ich auch noch inkontinent, fuhr es Zorn durch den müden Schädel. Als ob senile Bettflucht allein nicht schon reichen würde.
    Dann fiel ihm ein, dass er eigentlich immer aufs Klo musste, wenn er irgendwo mit fließendem Wasser konfrontiert wurde. Nein, schlimmer noch, selbst an der Tankstelle, wenn das Benzin glucksend durch die Zapfpistole floss, stellte sich der Harndrang unweigerlich ein. Hauptkommissar Zorn hatte nicht nur ein empfindsames Gemüt, auch seine Blase reagierte äußerst sensibel.
    Die Glaskanne lief über, das kalte Wasser plätscherte über seine Hände und riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Du könntest echt eine Dusche vertragen und überhaupt«, Zorn drehte sich um, »wieso machst du kein Licht?«
    Keine Antwort.
    »Hast du hier gepennt? Ich dachte, du wärst gestern Abend nach Hause gefahren.«
    Er nahm die beschlagene Brille ab, blinzelte, tastete sich zum Schreibtisch vor und legte sie auf einen Aktenstapel. Sehen konnte er in der Dunkelheit noch immer so gut wie nichts. Die Kanne hielt er in der Rechten, mit der linken Hand tippte er Schröder an die Schulter.
    Der reagierte nicht.
    Zorn lief zur Tür, um das Licht anzumachen, ein Krachen ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich um. Schröder war nach vorn gekippt und mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt.
    »Willst du mich verarschen?!«
    Zwei Schritte zur Tür, Zorn hieb auf den Lichtschalter, ein Relais klackte, die Neonröhre sprang an. Zwei Schritte zurück, er schloss geblendet die Augen, öffnete sie wieder.
    Drei Sekunden vergingen.
    Vier.
    Nach der fünften hatten sich seine Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt. Es sollte weitere zwanzig Sekunden dauern, bis er das Bild, das sich ihm bot, verarbeitet hatte.
    Zunächst erkannte Zorn, dass der, der da auf dem Schreibtisch lag, eindeutig nicht Hauptkommissar Schröder war. Diese Tatsache war noch irgendwie akzeptabel, doch die zweite Erkenntnis führte dazu, dass sein Verstand buchstäblich einen Luftsprung machte, sein Hirn streikte, stellte sich auf die Hinterbeine, es fehlte nicht viel und Zorn hätte geblökt wie ein Maulesel.
    Der Mann war tot.
    Eindeutig.
    Zorn hatte ihn noch nie gesehen.
    Sein Oberkörper war nach vorn geklappt, der Kopf lag auf der Schreibunterlage, das Gesicht Zorn zugewandt. Nein, Schröder war das nicht, der hier war wesentlich größer, die dünnen Arme hingen herab, das dunkle Haar stand wirr vom Kopf ab. Die Oberlippe war

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