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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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ihn auch nicht.«
    *
    Um zwei Uhr morgens ist die Temperatur auf sechs Grad unter Null gefallen. Die Luft ist trocken, ein leichter, fast arktischer Wind weht. Der ungewöhnlich frühe Frost umklammert die schlafende Stadt, verbeißt sich in den Mauern, tötet die letzten, noch an den Bäumen hängenden Blätter.
    Der Mond steht genau zwischen den Schornsteinen des Badehauses. Scharf, wie mit dem Messer ausgeschnitten, zeichnen sich die Schatten der Platanen auf dem gefrorenen Gras ab.
    Jan Czernyk geht langsam, vorgebeugt, mit vorsichtigen, tastenden Schritten. Die Last auf seiner linken Schulter ist schwer, er muss aufpassen, dass er nicht ausrutscht. Sein Atem geht stoßweise, kondensiert in der kalten Luft und umgibt seinen Kopf wie der Rauch einer dicken Zigarre.
    Er läuft am Musikpavillon vorbei, dann erreicht er den Zaun, bleibt keuchend stehen. Das Bündel fällt mit einem leisen Klatschen zu Boden.
    Der Tote liegt auf dem Rücken. Noch immer hat er diesen staunenden Ausdruck im Gesicht, das jetzt starr ist, wie von einer Wachsschicht überzogen. Der Mund ist halb geöffnet, ein Schneidezahn ist herausgebrochen.
    Hauptkommissar Czernyk streckt den Rücken, bewegt den Kopf hin und her, wie ein Ringer, der die Nackenmuskeln lockert. Den Anzug hat er gegen einen schwarzen Overall getauscht, seine Füße stecken in braunen Doc Martens, er trägt durchsichtige Chirurgenhandschuhe. Noch einen Moment verschnauft er, dann geht er vor dem Toten in die Hocke, umarmt ihn und zieht ihn in die Höhe. So stehen sie da, Wange an Wange, eng aneinandergeschmiegt wie ein verliebtes Paar auf der Tanzfläche, darauf wartend, dass der letzte Walzer des Abends beginnt.
    Czernyk holt tief Luft, hievt sich die Leiche wieder über die Schulter. Die Lücke im Zaun ist schmal, die schwarzen Lackschuhe des Toten verhaken sich zwischen den Metallstäben, ein Ruck, einer der Schuhe fällt zu Boden, dann steht Czernyk auf der anderen Seite.
    Die schmale Sackgasse liegt im Dunkel. Er lauscht einen Moment, die Leiche hängt über seiner Schulter wie eine große Puppe, die Hände baumeln vor seinen Oberschenkeln. Czernyk scheint das Gewicht nicht zu spüren.
    Auf dem Fußweg, direkt am Zaun, parkt ein grauer Golf. Die Beifahrertür steht offen, er lässt den Toten in den Sitz gleiten, drückt die Tür vorsichtig zu. Ein kurzes Zögern, dann läuft er zurück, holt den Schuh und wirft ihn auf die Rückbank. Im Kofferraum liegt eine nagelneue, in Plastikfolie verschweißte Polizeiuniform, er zieht sich um, der Overall verschwindet in einem blauen Müllsack. All dies macht er schnell, präzise, mit fließenden, eleganten Bewegungen.
    Der Golf ist alt, mindestens zehn Jahre. Der linke Kotflügel ist ein wenig verbeult, der Lack auf der Motorhaube ist stumpf, auf der Heckscheibe klebt das Bild eines lachenden Babys, darunter eine krakelige Aufschrift.
    VORSICHT! LOUIS ON TOUR!
    Czernyk startet den Motor. Die Leiche auf dem Beifahrersitz sackt nach vorn, er beugt sich hinüber und schnallt den Toten an, lehnt den Kopf an die Scheibe, streicht ihm das Haar in die Stirn. Jetzt sieht es aus, als schlafe der Mann neben ihm, ein dünner, etwas verwahrlost wirkender Herr im teuren Anzug, der zu viel getrunken hat. Friedlich, entspannt. Abgesehen von dem Blut aus der Wunde am Hals, das längst geronnen ist und als schwarze, krustige Schicht die Vorderseite des weißen Hemds überzieht.
    Czernyk legt den Gang ein. Seit er den Kurpark verlassen hat, sind weniger als zwei Minuten vergangen.
    *
    Drei Stunden später geht in einer Seitenstraße im Bahnhofsviertel ein grauer VW Golf in Flammen auf. Der Knall der Explosion dringt bis hinauf zu Hauptkommissar Zorn, der in seiner Wohnung im vierzehnten Stock rauchend auf dem Sofa hockt und nicht schlafen kann. Er geht zum Fenster, sieht, wie die Flammen tief unter ihm die Fassaden der Mietskasernen erleuchten, ein schwarzer Rauchpilz steigt hoch und löst sich im Nachthimmel auf.
    Es ist fünf Uhr morgens. Zorn wirft einen kurzen, unentschlossenen Blick auf das Sofa, dann nimmt er seine Jacke und verlässt die Wohnung.
    Die Ampel hinter dem Kreisverkehr am Bahnhof steht auf Rot. Während er wartet, fällt ihm ein, dass er sein Handy zu Hause vergessen hat. Er stößt einen leisen Fluch aus, beschließt aber, trotzdem ins Präsidium zu fahren. Die Hauptstraße ist menschenleer, leise tuckert der Volvo im Leerlauf.
    Links, auf dem Fußweg, nähert sich ein Streifenpolizist. An der Ampel bleibt er kurz stehen, dann

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