Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
Vom Netzwerk:
Wangen, dann schlug er die Ärmel seiner schwarzen Robe zurück und ließ seinen professionell gütigen, mit dem gebotenen Ernst durchdrungenen Blick durch das Kirchenschiff schweifen.
    Er begann zu reden, seine tiefe, geschulte Stimme wurde von kleinen Lautsprechern an den Säulen verstärkt. Es ging um Tod, Vergebung, Trost, um Gottes Pläne, die der Mensch nicht erkennen könne, Worte, die Zorn seit seiner Kindheit kannte und die in seinen Augen nichts weiter waren als Lügen, wohlgemeint zwar, doch einzig dazu da, seit Jahrtausenden die Wahrheit zu verschleiern. Hoffnung zu geben, wo keine Hoffnung war.
    Wie gern hätte Zorn diesen Worten geglaubt! Doch sein Verstand weigerte sich hartnäckig, niemand saß Harfe spielend auf einer Wolke, es gab kein Leben nach dem Tod, das, was folgte, war das Nichts. Dunkelheit. Kälte. Verwesung.
    »Lasst mich ziehen«, rezitierte der Pfarrer. »Haltet mich nicht. Gott hat meine Reise bisher gnädig gesegnet. Ich kann nun getrost zu ihm zurückkehren.«
    Jaja, überlegte Zorn bitter. Genau das hat Wachtmeister Kusch gedacht, als er am Boden lag und spürte, wie das Gift sich durch seine Eingeweide fraß. Ich kann nun getrost zu Gott zurückkehren. Dass ich nicht lache! Nein, nicht Gottes unerklärlicher Ratschluss hat Kusch getötet.
    Jan Czernyk war’s.
    Wieder musste er gähnen. Die wohlgesetzten Worte zogen an Zorn vorbei wie die Vogelschwärme, die sich draußen am Fluss versammelten und Richtung Süden flogen, sich entfernten und zu einem klebrigen Brei verschmolzen. Bleiern senkte sich die Müdigkeit auf das Haupt des ermatteten Hauptkommissars, der nur noch aus weiter Ferne mitbekam, wie der Pfarrer seine Predigt mit einem weiteren Bibelzitat beendete und Platz für den nächsten Redner machte.
    Als der Bürgermeister zu sprechen begann, war Claudius Zorn eingeschlafen.
    *
    Ich danke dir, dass ich an dich glauben darf, betete Frieda Borck. Dafür, dass ich tief in meinem Herzen weiß, dass es dich gibt. Für diesen Glauben bin ich dir wirklich dankbar, aber du musst mir helfen, dass dies auch so bleibt. Du hast mir schon oft geholfen, weißt du noch? Damals, als ich dich gebeten habe, diesen albernen Schönheitswettbewerb zu gewinnen. Oder als ich meinen Teddy im Sandkasten vergessen hatte, den grauen mit dem abgerissenen Arm, ich habe dich angefleht, dass ihn keines von den anderen Kindern mitgenommen hat. Er war noch da, weil du aufgepasst hast.
    Jetzt musst du wieder etwas für mich tun.
    Lass mich diese verdammte Keycard wiederfinden.
    Wenn nicht, mach, dass ich sie nur verloren habe.
    Lass nicht zu, dass Jan sie aus meiner Tasche genommen hat.
    *
    Wäre die Rede des Bürgermeisters verfilmt worden, so hätte man die Szene wohl mit leiser, dramatischer Musik unterlegt. Die verweinten Augen der Angehörigen wären in Großaufnahme gezeigt worden, dann ein Schnitt unter das Kirchendach, Totale aus vierzig Metern Höhe mit Blick auf die Köpfe der Trauergesellschaft, ein weiterer Schnitt, die Kamera würde an der ersten Reihe entlanggleiten, vorbei an den Honoratioren der Stadt, der Frau des Bürgermeisters, dem Baudezernenten, dem Pfarrer und dem stellvertretenden Polizeichef, der noch immer hoffte, die Nachfolge seines ermordeten Vorgesetzten antreten zu können.
    Nein, dies war kein Film, es war nur ein weiterer Tag im Leben des Claudius Zorn, aber wenn es ein Film gewesen wäre, so hätte man die etwas unbeholfenen Worte des Bürgermeisters nachsynchronisiert, ebenso, wie ein kluger Regisseur die anschließende Schweigeminute herausgeschnitten hätte.
    »Und so bitte ich die Versammelten, sich von ihren Plätzen zu erheben und der so grausam aus unserer Mitte Entrissenen in einem Moment der Andacht zu gedenken«, las der Bürgermeister von seinem Zettel ab.
    Es wurde unruhig, Stühle wurden gerückt, Kleidung raschelte, Füße scharrten über die uralten Steinfliesen.
    Über dreihundert Menschen standen mit gesenkten Köpfen an ihren Plätzen, stumm, ehrfürchtig, in Gedanken mit den Toten und dem eigenen Ableben beschäftigt.
    Die Sekunden vergingen.
    Niemand bemerkte zunächst, dass einer von ihnen sitzen geblieben war. Auch Hauptkommissar Schröder bekam es nicht mit, er hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet, starrte versunken an die Decke und achtete nicht auf seinen Nachbarn, der mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl hockte, die Beine ausgestreckt, das Kinn auf die Brust gesackt.
    Hinten, auf der Empore, schluchzte ein junger Mann leise auf. Der

Weitere Kostenlose Bücher