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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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auf.
    »Da bist du ja endlich!«
    Er kam auf Zorn zugetippelt, tapsig, wie ein großer, unbeholfener Vogel. In den Händen hielt er ein kleines Plastikauto.
    »Hier«, er reichte Zorn das Spielzeug. Ein Feuerwehrauto, die Leiter war abgebrochen.
    »Danke«, sagte Zorn und fügte dann hinzu: »Papa.«
    »Du solltest besser auf deine Sachen aufpassen, Rüdiger! Alles lässt du rumliegen!« Der Alte schwieg verwirrt. Vorn auf seinem Nachthemd hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. »Warum kommst du erst jetzt? Wir haben die ganze Zeit mit dem Abendbrot gewartet!«
    »Ich musste arbeiten.«
    Plötzlich, wie aus dem Nichts, hob Schröders Vater die Hand und gab Zorn eine schallende Ohrfeige.
    »Das ist keine Ausrede!«
    Zorn taumelte zurück, sein Kopf dröhnte. Der Ehering hatte ihm die Oberlippe aufgerissen.
    Der Alte wankte näher. Die knochigen Beine ragten aus dem Nachthemd hervor wie brüchige Äste. In Erwartung eines weiteren Schlages zuckte Zorn zusammen, stattdessen legte sich eine kühle Hand auf seine Wange.
    »Du musst lernen, pünktlich zu sein, mein Sohn.«
    Zorn nickte stumm und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    »Wir müssen ihn verbinden«, sagte Schröder leise.
    Die Glasscherben hatten die Füße des alten Mannes zerschnitten, der Teppich war mit blutigen Abdrücken übersät. Unter dem Fenster, da, wo er eine Weile gestanden hatte, glänzte eine dunkle Pfütze.
    »Du musst dich ein bisschen ausruhen«, sagte Zorn. Er spürte, wie seine Oberlippe anschwoll.
    »Ich bin aber nicht müde!«
    »Das weiß ich.«
    Widerstandslos ließ sich der Alte zum Bett führen und setzte sich auf die Kante. Er nahm ein Kissen, knetete es im Schoß und brabbelte leise vor sich hin. Zorns Knie knackte, als er vor dem Bett in die Hocke ging, er griff einen Fuß und hob ihn vorsichtig an. Der Uringestank nahm ihm den Atem, Blut floss über seine Finger, die Sohle war mit vielen kleinen Schnittwunden bedeckt.
    Wortlos reichte ihm Schröder eine Mullbinde. Zorn umwickelte den Fuß, unbeholfen, es war lange her, dass er einen Erste-Hilfe-Kurs besucht hatte.
    »Du bist da. Endlich.«
    Knotige Finger fuhren durch sein Haar. Der Mann musste Schmerzen haben, es ging gar nicht anders. Doch er schien nichts zu spüren.
    »Ja«, nickte Zorn und nahm den anderen Fuß. »Ich bin da.«
    Ein Glassplitter hatte sich tief in das Fleisch gebohrt, Zorn biss die Zähne zusammen und zog ihn mit einem Ruck heraus.
    Was mach ich hier?, überlegte er und streckte die Hand aus, um sich von Schröder eine zweite Binde reichen zu lassen. Ich knie vor einem wildfremden Verrückten, der mich für seinen Sohn hält, verbinde ihm die Füße und lasse mir zum Dank die Lippe blutig boxen. Aber ich bin es Schröder schuldig, nein, nicht nur ihm, auch seinen Eltern. Und mir selbst. Schließlich habe ich mich nie um meinen eigenen Vater gekümmert.
    Er riss das letzte Stück der Binde auseinander und verknotete die Enden auf dem Fußrücken.
    »Fertig.«
    »Du bist ein guter Junge«, murmelte der Alte verträumt. Zorn ordnete das Bettlaken und drückte ihn sanft in die Kissen. Die Hände wanderten über die Decke, aufgescheuchte Spinnen, die etwas suchten, woran sie sich festhalten konnten.
    »Du musst aufpassen, Rüdiger.«
    Die Finger fanden Zorns Handgelenk.
    »Das werde ich«, versprach Zorn.
    »Nein, du verstehst nicht.« Der Alte richtete sich auf, seine Augen flackerten. »Steig nicht in das Boot, du wirst verdursten!«
    »Okay.«
    Zorn versuchte erst gar nicht, hinter den Sinn dieser Worte zu kommen.
    »Es ist wichtig. Du bist ein guter Sohn, aber er«, ein knochiger Zeigefinger wies zitternd auf Schröder, der reglos neben der Tür stand, »hätte auf dich aufpassen müssen. Er ist schlecht!«
    »Das ist er nicht«, widersprach Zorn leise und richtete sich auf.
    »Doch!«
    Zorn wurde am Hemd gepackt und hinabgezogen.
    »Er hat dich im Stich gelassen, seinen eigenen Bruder«, keuchte der Alte aufgeregt. »Er ist schlecht!« Zorn spürte den sauren Atem des alten Mannes, wollte widersprechen, doch Schröder hinter ihm holte tief Luft. Eine Warnung.
    Lass ihn reden, hieß das. Gib ihm Recht.
    »Du glaubst mir nicht, stimmt’s?« Schröders Vater legte den Kopf schief, sein Blick bekam etwas Verschlagenes. »Aber ich kann es beweisen. Er hat an sich rumgespielt, ich habe ihn dabei erwischt! Neulich, als er gerade aus der Schule gekommen war.«
    Die Worte schwollen an, flogen Zorn entgegen, mischten sich mit dem Speichel des Alten. Der

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