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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Ludwig
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Bürgermeister kratzte sich an der Nase, ein Lautsprecher knackte.
    Dann ertönte ein Geräusch, das anfangs nur schwer zu definieren war. Ein nasales, langgezogenes Krächzen, leise, fast schüchtern erst, dann dröhnte es durch die andächtige Stille wie der Brunftschrei eines verschnupften Elchbullen, verstärkt durch die hervorragende Akustik des spätgothischen Kirchenschiffes.
    Kurz bevor der selig schlummernde Claudius Zorn zur Seite sank, packte der dicke Schröder seinen Oberarm und verhinderte im letzten Moment, dass er der Länge nach auf dem Mittelgang aufschlug.
    Aber das Schnarchen, das hatten Einige gehört.
    *
    Das große Glück des Claudius Zorn bestand darin, dass er an diesem Abend nicht mehr richtig wach werden sollte. Er sah nicht, dass die Trauergäste in den ersten Reihen kopfschüttelnd zu tuscheln begannen, auch den entsetzten Blick des Bürgermeisters bemerkte er nicht. Nur am Rande bekam er mit, dass Schröder ihn vorsichtig aus der Kirche führte und draußen in ein Taxi setzte. An die Fahrt sollte er sich später nicht mehr erinnern, wie durch dicken Nebel stapfte er zum Fahrstuhl, und als er endlich in seiner Wohnung ankam, sank er angezogen auf sein Bett und schnarchte innerhalb von Sekunden weiter, als wäre nichts geschehen.
    Zwölf Stunden schlief Zorn tief und traumlos, wie viele andere auch. Allerdings nicht alle, denn einige Menschen in der Stadt blieben wach, manche, weil sie arbeiten mussten, andere, weil sie schon den größten Teil des Tages mehr oder weniger schlafend vor den Flachbildschirmen ihrer Fernseher verbracht hatten und sich jetzt unruhig in ihren Betten wälzten.
    Vier weitere Menschen fanden in dieser Nacht ebenfalls keinen Schlaf: Jan Czernyk war mit seinen weiteren Plänen beschäftigt. Frieda Borck hielt Zwiesprache mit Gott. Was Malina tat, wissen wir nicht.
    Auch Hauptkommissar Schröder tat kein Auge zu.
    Warum, würde sich bald herausstellen.

Zweiundzwanzig
    Der nächste Tag begann für Claudius Zorn mit einer handfesten Überraschung. Sicherlich, weitere, weit schlimmere sollten noch folgen, doch als er pünktlich zum Dienstbeginn das Büro betrat, war Zorn zumindest verwundert, den dicken Schröder nicht an seinem gewohnten Platz anzutreffen.
    Unschlüssig stand er in der Tür und sah sich um. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet. Der Schreibtisch war beiseite gerückt worden. Die große Stehlampe stand mitten im Raum. Tischplatte und Türblatt waren mit schwarzem Graphitpulver verschmiert. Auf dem Teppich lagen rote Plastikpfeile. Die Stelle, an der die Leiche zum Schluss gelegen hatte, war mit weißen Klebestreifen markiert.
    Zorns Bürostuhl war an die Wand gerollt worden. Er fuhr mit den Fingern über die Vertiefung auf der Sitzfläche, dachte an den Toten, der zuletzt hier gesessen hatte, und richtete sich fröstelnd wieder auf.
    Da war noch etwas anderes.
    Er schnupperte.
    Überlagertes Hackfleisch und verdorbener Aufschnitt.
    Nee, dachte er. Hier bleib ich keine Sekunde länger.
    Zorn ging.
    Rauchen.
    *
    Auf den ersten Blick hätte man meinen können, der Richter sei tot.
    Seine rechte Wange lag auf dem Rand der Badewanne, die alte Wolldecke bedeckte den mageren Körper bis zum Kinn. Der Mund war halb geöffnet, die Zunge, geschwollen und bläulich verfärbt, hing zwischen den aufgesprungenen Lippen wie ein toter Fisch. Ein schmutziggrauer Flaum hatte sich auf seinen eingefallenen Wangen gebildet, unter den halbgeschlossenen Lidern schimmerten die gelblichen Augäpfel. Nur das kaum merkliche Auf und Ab des Brustkorbs zeigte, dass der alte Mann schlief.
    Tot war er nicht.
    Noch nicht.
    *
    Zorn saß in der Kantine, als sein Handy klingelte. Während der letzten halben Stunde war er ziellos durchs Präsidium geschlichen, dann hatte er beschlossen, hier auf Schröder zu warten. Vor ihm standen eine Tasse Kaffee und ein Plastikteller mit einem Marmeladenbrötchen. Er hatte es nicht angerührt, der Kaffee wurde langsam kalt.
    »Du musst herkommen«, sagte Schröder am Telefon. »Sofort.«
    *
    Jan Czernyk stand in der engen Zelle und betrachtete seinen Gefangenen. Sein Blick war hart, mitleidlos, als läge kein Mensch, sondern ein Sack voller Würmer in der Badewanne. So ähnlich roch der alte Mann auch, er bewegte sich im Schlaf, murmelte vor sich hin. Die Worte waren unverständlich, doch es klang, als habe er Angst.
    »Gut so«, sagte Czernyk leise.
    In der Hand hielt er eine Büchse mit Bohnensuppe, er hatte sie bereits geöffnet. Dicke

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