Zorn - Wo kein Licht
Fettklumpen schwammen auf der trüben Brühe, dazwischen ein weißes, mehlartiges Pulver. Zerstoßene Tabletten, Barbiturate, sie ließen den Richter immer wieder in ohnmachtähnlichen Schlaf fallen.
Czernyk rührte mit dem Finger in der Büchse, bis das Pulver sich mit der Brühe vermischt hatte. Die Tabletten waren gefährlich, irgendwann würde der alte Mann Entzugserscheinungen bekommen. Herzrasen. Halluzinationen. Vielleicht ins Koma fallen.
Das war Jan Czernyk egal.
Vorerst jedenfalls.
*
»Wo bist du?«, fragte Zorn.
»Zu Hause.«
»Würdest du deinen Hintern vielleicht ins Präsidium …«
»Ich sagte, du sollst herkommen.«
Zorn horchte auf. Etwas in Schröders Stimme war anders als sonst.
»Was ist los?«
Im Hintergrund glaubte Zorn, laute Stimmen zu hören.
»Wer schreit da?«
»Komm her«, sagte Schröder zum dritten Mal und legte auf.
*
Czernyk stellte die Büchse auf den Boden, dann beugte er sich über die Wanne und fühlte dem Richter die Stirn. Sie war heiß, sehr heiß. Der Alte zuckte im Schlaf, stieß ein ängstliches Wimmern aus.
»Du wirst noch ein bisschen durchhalten, alter Mann«, murmelte Czernyk.
Ein letzter, prüfender Blick. Dann holte er einen Zettel aus seiner Manteltasche und befestigte ihn an der Wand. Der Akku des Laptops war leer, er hatte die Botschaft mit der Hand geschrieben.
DAS URTEIL IST GEFÄLLT. MACH DICH BEREIT.
Czernyk ging.
*
Zorn parkte den Volvo direkt vor dem Haus. Bevor er klingeln konnte, öffnete Schröder die Tür. Er sah müde aus, seine Haut war käsig, die kleinen, geröteten Augen leuchteten wie gesplitterte Bremslichter im Nebel.
»Komm rein.«
Kein Lächeln, keine Begrüßung.
»Was ist passiert?«
Unwillkürlich senkte Zorn die Stimme.
Schröder öffnete die Tür zur Wohnung seiner Eltern.
»Die Schuhe kannst du anlassen. Die Jacke auch.«
Im Flur blieb Schröder stehen und deutete auf eine Tür zu seiner Linken.
»Er ist da drin. Es geht ihm nicht gut, du wirst selbst sehen, was los ist.«
Hinter der Tür war ein Krachen zu hören, als würde ein Bücherstapel zu Boden fallen. Schröder schwieg einen Moment, dann sah er Zorn an. »Er sagt Dinge, die ein gesunder Mensch niemals aussprechen würde. Ich will nicht, dass jemand davon erfährt.«
Aus der Küche drang die dünne Stimme einer alten Frau.
»Ist er da?«
»Ja, Mama«, sagte Schröder, ohne Zorn aus den Augen zu lassen. »Alles wird gut.«
Langsam dämmerte Zorn, was Schröder von ihm erwartete.
»Was soll ich machen?«, fragte er.
»Das Richtige.« Schröder öffnete die Tür. »Pass auf die Scherben auf.«
*
Es hatte zu nieseln begonnen.
Jan Czernyk stand an der Straßenbahnhaltestelle am Zoo, vom Dach des Wartehäuschens tropfte das Wasser. Die Uniform hatte er ausgezogen, unter dem Mantel trug er seinen dunklen, mittlerweile ziemlich zerknitterten Anzug. Trotzdem war ihm nicht anzusehen, dass er die letzten Nächte unter einer schmutzigen Decke im Inneren einer Ruine verbracht hatte.
Neben dem Fahrplan hing das Werbeplakat eines Optikers. Ein höchstens fünfjähriger Junge in kariertem Hemd und umgekehrtem Basecap auf dem Kopf streckte grinsend den Daumen in die Höhe, auf der Nase saß eine giftgrüne Brille. Als Czernyk den Werbespruch las, verzog er das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen.
COOLE BRILLEN FÜR KIDS! JETZT SEHTEST MACHEN!
Die Straßenbahn hielt mit quietschenden Bremsen. Czernyk vergrub die Hände in den Manteltaschen und stieg ein. Sein nächstes Ziel befand sich nur ein paar Stationen entfernt.
Vorher musste er noch ein Telefonat führen.
*
Das Schlafzimmer war völlig verwüstet. Schröders Vater stand mit dem Rücken zu ihnen am Fenster. Er trug ein weißes Nachthemd mit großem, altmodischem Kragen, die verschwitzen Haare klebten ihm am Kopf.
»Er ist jetzt da, Papa.«
Der Alte reagierte nicht. Das Doppelbett war zerwühlt, die Decken lagen halb auf dem Teppich. Die Türen eines großen Eichenschranks hingen schief in den Angeln, Kleidung war herausgerissen und überall im Zimmer verstreut worden. Eine Vase war vom Nachttisch gefallen, Bücher, Medikamentenschachteln und schmutziges Geschirr bedeckten den Boden.
Schröder ging zum Fenster, Scherben knirschten unter seinen Hausschuhen. Er legte seinem Vater die Hand auf die Schulter.
»Papa?«
Der Alte sah auf Schröder hinab, dann wandte er sich um. Sein Blick irrte durch das Zimmer, blieb an Zorn hängen. Die Augen, stumpf wie milchiges Glas, leuchteten plötzlich
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