Zorn - Wo kein Licht
verwandelte sich in schlichte Schönheit, die Töne verbanden sich, verschmolzen zu wirklicher, wahrhaftiger Musik, traurige, geradezu schmerzhafte Schwingungen drangen durch jede Pore und setzten sich tief in seinem Inneren fest, irgendwo dort, wo er seine Seele vermutete.
Zorn wurde Teil dieser Trauer, ein Kloß bildete sich in seinem Hals, er wehrte sich nach Kräften, doch die Gedanken an die Toten da vorn ließen sich nicht vertreiben. Er sah sie vor sich, ausgestreckt in ihren Särgen, bleich, mit geschlossenen Augen, die Hände vor dem Bauch gefaltet, Wachtmeister Kusch, den Bauchredner, auch den Polizeipräsidenten, mit dem er nie ein Wort gewechselt hatte. Der Tod dieser Menschen war ungerecht, sinnlos, er selbst, Zorn, würde irgendwann ebenfalls in einer solchen Kiste liegen, genau wie sein Vater, den er vor fünfzehn Jahren beerdigt und noch nie an seinem Grab besucht hatte, nicht etwa, weil es ihm egal war, sondern weil er den Gedanken an das, was von seinem Vater übrig war, an die Kälte und die Dunkelheit einfach nicht ertrug. Manchmal, alle paar Monate vielleicht, fuhr er mit dem Volvo hinaus zum Friedhof, hielt an der Mauer und stand eine Weile rauchend vor einer vergitterten Öffnung, sah hindurch zu den hohen Tannen, unter deren Schatten die Grabsteine aufragten. Auf einem von ihnen stand der Name seines Vaters, er wollte nicht wissen, welcher es war. Und dann, während hinter ihm der Verkehr rauschte, überlegte er, wie lange er noch hier, auf der Seite der Lebenden, stehen würde. Nie ging er hinein, bald genug würde er selbst dort liegen.
Die Musik war nicht laut, doch sie füllte den Raum bis in den letzten, verborgenen Winkel, stieg bis hoch unter die steinerne Decke und grub sich tief in das Herz von Claudius Zorn, der wie gelähmt auf seinem Stuhl hockte und spürte, wie der Kloß in seinem Hals langsam nach oben wanderte.
Er schluckte, die Kirche verschwamm vor seinen Augen.
Nein, ich werde jetzt nicht losheulen, dachte er verzweifelt. Nicht hier, in aller Öffentlichkeit, vor all diesen Menschen, zu diesem albernen Gefiedel.
Doch die Traurigkeit siegte.
Tränen rannen über Zorns Gesicht, er wusste nicht, ob aus Selbstmitleid oder Mitgefühl, wahrscheinlich war es beides.
Die Musik wurde langsamer, dann verstummte das Orchester. Der letzte Dreiklang schwebte noch lange vibrierend zwischen den steinernen Bögen der Kirchenkuppel, dann, als die Musiker ihre Instrumente längst abgesetzt hatten, löste sich der Akkord auf wie Frühnebel in der Morgensonne.
Jemand tippte Zorn auf die Schulter, es war Schröder, der ihm wortlos ein kariertes Taschentuch reichte.
»Ich hab was im Auge«, schniefte Zorn leise. »Beschissene Luft hier drin.«
Schröder schwieg.
Ich hab tatsächlich geflennt, dachte Zorn, wischte sich das Gesicht ab und tat, als würde er sich die Nase putzen. Wenigstens scheint Schröder der Einzige zu sein, der es mitbekommen hat. Es hätte schlimmer kommen können.
Zorns Erleichterung war ein wenig verfrüht.
Es kam schlimmer.
*
Links neben dem Altar stand vor einer der Säulen ein modernes Kruzifix aus schwarzem Eisen. Das Metall war verbogen, der Gekreuzigte hatte die rechte Hand losgerissen und streckte sie nach vorn, als wäre er im Begriff, von seinem Sockel zu steigen.
Frieda Borck betrachtete die Plastik. In einem schmiedeeisernen Leuchter direkt daneben brannte eine Kerze, Ruß stieg auf, Schatten zuckten über das Kreuz. Die Staatsanwältin senkte den Kopf. Als sie zu beten begann, bewegten sich ihre Lippen lautlos mit.
Lieber Gott, gib diesen Menschen Frieden. Nimm sie zu dir. Lass ihre Seelen Ruhe finden, lass sie vergessen, wie sie gestorben sind.
Die Kerze flackerte auf. Es schien, als würde die Skulptur sich bewegen.
Ich weiß nicht, wann du mich zu dir holen wirst. Das ist auch gut so, diese Entscheidung überlasse ich dir, aber bitte, lieber Gott, lass es auf andere Weise geschehen. Nicht so. Mit all diesen Schmerzen, ohne die geringste Vorahnung. Vielleicht gibst du mir noch ein bisschen Zeit, damit ich alt werden kann.
Gib mir Kraft, das Richtige zu tun. Hilf mir, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Öffne meine Augen, damit ich sehe. Und erkenne, wer das getan hat.
Hilf uns, das Schwein zu kriegen.
Und lass Jan nichts damit zu tun haben.
Bitte.
*
In der ersten Reihe entstand Unruhe, der Pfarrer erhob sich und trat an die Kanzel. Ein paar Sekunden stand er schweigend da, ein dicklicher Mittvierziger mit schütterem Haar und rosa
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