Zorn - Wo kein Licht
Adamsapfel hüpfte in dem faltigen Hals, die Augen wurden groß, leuchteten wie verschmutzte Scheinwerfer.
»Er hat onaniert!«
Der Alte schrie aus Leibeskräften.
ONANIEEEEEERT!!!!
Seine Finger pressten sich wie Schraubstöcke um Zorns Arme. »Steig nicht in das Boot! Versprich es mir! Das Wasser ist kalt!« Er heulte, bäumte sich auf, schlug gegen den Nachttisch, ein Wasserglas zerschellte am Boden. Zorn versuchte, ihn ins Bett zu drücken, der Alte warf sich hin und her, der letzte Rest Vernunft war aus seinem Körper gewichen, die Zähne schlugen mit einem lauten Klacken aufeinander, plötzlich brach er in ein irres, kehliges Lachen aus.
» ER HAT ONANIHIHIHIHIHIERT! «
»Still!«, rief Zorn.
Das Lachen verstummte. Als würde eine Tür ins Schloss fallen.
Neben dem Bett lag ein Taschentuch. Zorn putzte dem Alten die Nase, redete leise auf ihn ein. Was genau, wusste er nicht, es war auch egal. Verwundert stellte er fest, dass der Klang seiner Worte genügte.
Die Minuten vergingen, der Blick des alten Mannes wurde klarer, langsam, ganz langsam kam er wieder zurück.
»Was ist passiert?« Er verbarg das Gesicht hinter den Händen, wie ein Kind, das nicht gesehen werden will. »Mein Gott, ich verliere den Verstand.« Seine Stimme drang dumpf zwischen den Fingern hindurch, dann begann er, mit den Händen gegen die Schläfen zu schlagen. Er sah zu Zorn auf, seine Augen waren feucht. »Ich kann nichts dagegen tun, es ist, als hätte ich ein Loch im Kopf, ich merke ja, wie es schlimmer wird. Nicht nur für mich, auch für euch. Aber dann bin ich weg, und wenn ich zu mir komme, weiß ich nicht, was passiert ist. Ich will das nicht. Ich will das alles nicht!«
Zorn strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn.
»Alles wird gut«, murmelte er.
»Du bist ein guter Junge, Rüdiger. Du musst nur lernen, pünktlich zu sein.« Der Alte lächelte vorwurfsvoll. »Komm her«, sagte er dann, an Schröder gewandt. Er hatte die Stimme gehoben, jetzt glaubte Zorn zu wissen, wie er früher geklungen hatte, damals, als er noch Herr seiner Sinne gewesen war.
Dann saßen sie auf der Bettkante, Zorn links, Schröder rechts. Der Alte lag zwischen ihnen, sein Blick wanderte von einem zum anderen.
»Ihr seid Brüder, ihr müsst auf euch aufpassen.«
Er nahm ihre Hände.
Zorn schluckte.
»Das werden wir.«
»Wir werden aufpassen«, wiederholte Schröder. »Wir versprechen es.«
»Gut«, nickte der Alte zufrieden. »Jetzt muss ich ein bisschen schlafen. Sagt eurer Mutter, dass ich heute später zur Arbeit gehe.«
Er schloss die Augen, noch immer hielt er ihre Hände fest umklammert.
Schweigend warteten sie, bis sein Atem tief und regelmäßig geworden war.
Dann gingen sie.
*
»Wie lange geht das schon so, Schröder?«
»Lange. Zu lange.«
Sie saßen im Auto. Zorn fuhr vorsichtig, wie ein Anfänger.
»Du könntest dich bedanken«, sagte er.
»Muss ich?«
»Blödsinn.«
Nein, Dank erwartete Zorn tatsächlich nicht, Schröder hätte dasselbe für ihn getan. Nein, viel, viel mehr als das. Es kostete nichts, ein paar Minuten am Bett eines alten kranken Mannes zu sitzen. Unabhängig davon war dies alles wie selbstverständlich geschehen, automatisch, ohne Nachdenken. Sicherlich, Claudius Zorn war ein Sturkopf, ein mürrischer Einzelgänger, ein fauler, egoistischer Sack. Doch etwas anderes schlummerte in seinem fast fünfzigjährigen Dickschädel: Mitgefühl. Empathie. Selbstlosigkeit.
Dies war die andere Seite des Claudius Zorn.
Er hatte leider nur selten Gelegenheit, sie zu zeigen. Und wenn, tat er es ungern.
»Denkst du, es geht ihm besser, wenn er aufwacht?«
»Nein«, sagte Schröder. »Er ist dement. Es wird schlimmer werden.«
»Was ist mit einem Pflegeheim?«
Schröder schüttelte den Kopf.
»Er ist mein Vater. Ich bin sein Sohn.«
Und mich, dachte Zorn, hält er ebenfalls dafür.
»Kann es sein«, fragte er, »dass du mir deshalb alles durchgehen lässt? Weil ich deinem Bruder so ähnlich sehe? Weil ich dich an ihn erinnere? Wir wissen beide, dass du der bessere Bulle bist. Wahrscheinlich auch der bessere Mensch.«
Schröder antwortete nicht.
Und das war gut so, denn Zorn wollte es auch nicht wissen.
*
Ein Klicken, die Münzen fielen in den Schacht. Czernyk wartete einen Moment, dann ertönte das Rufzeichen. Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln.
»Ja?«
»Ich bin’s.«
Er hörte, wie sie zischend die Luft einsog.
»Gott sei Dank, Jan! Ich war so bescheuert, ich hätte dich nicht
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