Zornesblind
lief, der Bildschirm erwachte zum Leben.
Er sah die Polizistin. Sie stand auf dem Parkplatz. Und beobachtete, wie der hoch aufgeschossene Detective die Stufen nahm. Sie war attraktiv – das registrierte sein analytischer, autistischer Verstand: lange, schwarzbraune Haare bauschten sich um ihr Gesicht. Zweifellos eine Beauty im besten Alter, sprühend vor Schönheit und Energie. Schön wie eine strahlende Supernova, die hell aufleuchtet, bevor sie am Himmel verglüht.
Die Natter beobachtete, wie sie dort stand, völlig unvorbereitet auf die lauernde Gefahr. Dann kamen die Schüsse.
Die erste Kugel verfehlte ihr Ziel.
Die zweite ebenfalls.
Und dann detonierte die dritte – es war der perfekteste, wundervollste Schuss, den er je abgegeben hatte. Ein Lichtblitz wie die Aureole eines Engels . Unvermittelt schwankte Detective Felicia Santos. Sie stolperte zurück, landete hart auf dem Pflaster und lag da, ein verwunderter Ausdruck in ihren schönen Augen.
Wegen der schlechten Aufnahmequalität musste die Natter zoomen, um ihren Gesichtsausdruck besser einfangen zu können. In diesem Moment begriff er, was Sache war. Verdammte Hacke. Sie klappte die Lider auf und betastete ihre Brust …
Die Weste.
Die gottverfluchte kugelsichere Weste.
» NEIN !«, ächzte er. » NEEIIN !«
Unkontrolliert zitternd nahm er die DVD aus dem Gerät und zerbrach sie, schnitt sich dabei in die Hand. Dann trat er unbeherrscht gegen die Anrichte. Hart. Das Teil wackelte, als würde es jeden Moment zusammenkrachen.
Das war ihm völlig egal.
Sein Moment reiner, unverfälschter Schönheit – war ihm innerhalb von Sekundenbruchteilen gestohlen worden.
»Nein«, stammelte er weich. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Große, salzige Tropfen liefen über seine Wangen.
Es war unfair.
So wahnsinnig unfair.
Dann setzten die Kopfschmerzen ein. Als bohrte sich ein hungriges Insekt in seinen Schädel, um das Gehirn auszusaugen. Und dann kehrten die Stimmen zurück, fluteten sein Gedächtnis, schlugen über ihm zusammen, ertränkten ihn in gewaltigen, grausigen Wellen.
Das Lachen.
Dann das Knacken und Krachen.
Und dann die Stille. Die entsetzliche, horrende Stille .
Mit zitternden Händen angelte die Natter nach dem iPod. Knallte sich die Headphones auf die Ohren. Drückte auf »Play«. Und lauschte auf das weiße Rauschen. Drehte es auf volle Lautstärke.
Aber dieses Mal war es keine Erlösung.
Die Außenwelt war ausgeblendet, überwältigt von den Klängen in seinem Kopf. Er gewahrte das laute Krachen von Eis und die Kälte, die über ihn hinwegfegte.
Relax, redete er sich zu. Du musst relaxen.
Doch es klappte nicht.
Er war zu aufgelöst.
58
Auf der Fahrt zum Burnaby General hatte Striker rasendes Herzklopfen, seine Laune verdunkelte sich schneller als die abendliche Fünfuhr-Skyline. Er konnte machen, was er wollte, aber die MyShrine-Warnung, die auf dem PC der Natter aufgeflammt war, ging ihm nicht aus dem Kopf.
Er stellte das Zivilfahrzeug auf einem für die Polizei reservierten Parkplatz ab und lief durch den Haupteingang zur Notaufnahme. In der Ambulanz war es zwar brechend voll, aber lange nicht so chaotisch wie im St. Paul’s.
Striker schob sich durch den Gang zu einem der Patientenzimmer, in denen sechs Betten standen, dazwischen lediglich Trennvorhänge. Felicia saß auf dem sechsten Bett. Striker sah, dass sie eben ihren Hosengürtel zuschnallte und dabei leise aufstöhnte. Als sie ihn bemerkte, zeigte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht, und sie lächelte.
»Hey, Tigger.«
Striker trat an ihr Bett und half ihr in den Mantel. »Schon fertig?«
Sie nickte. »Ja. Bevorzugte Behandlung – von wegen Polizei und so.«
»Und was haben sie festgestellt?«
»Dass ich den Body einer Zwanzigjährigen habe«, grinste sie.
»Verdammt, welcher Arzt hat an dir rumgefummelt? Den Kerl schnapp ich mir!«
Sie lächelte über seinen Kommentar, und Strikers Herzschlag beschleunigte sich. Mit zweiunddreißig war Felicia fast zehn Jahre jünger als er. Das war nicht unbedingt viel, aber genug, um den Altersunterschied zu fühlen. Manchmal schien sie Generationen weit weg von ihm. Und dann, so wie jetzt, war Zeit gar kein Thema.
»Wie geht es dir?«, fragte er, seine Stimme wurde ernst. »Ganz ohne Scheiß, Feleesh.«
Sie zuckte vorsichtig mit den Schultern. »Ich hab ein paar Rippenprellungen, Prellungen im Bereich des Brustbeins, aber es ist nichts gebrochen. Nicht mal angeknackst. Die verstärkte Weste hat das Projektil
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