Zornesblind
wie die einer Puppe, seine Haut war gespenstisch weiß. Ein Arm baumelte aus dem schmutzig braunen Wasser; der andere lehnte auf dem Rand. Mit einem Blick erfasste Striker die Fleischwunde, die an Ostermanns Unterarm aufklaffte und in der Handinnenfläche mündete. Mehrere Schnitte, mit einem Rasiermesser beigebracht, tippte der Ermittler.
Tiefe, ausgezackte Linien, die nicht mehr bluteten.
»Heiliger Himmel«, stöhnte Felicia. »Er hat sich umgebracht.«
»Gib mir Deckung«, zischelte er.
Er glitt in den Raum und sah sich um. Auf dem Boden, neben dem Jacuzzi, lag ein altes Rasiermesser. Die Klinge war bräunlich rot verkrustet.
Auf dem Toilettensitz lagen eine Notiz und ein Schlüssel.
Striker beugte sich darüber. Auf dem zusammengefalteten Papier stand sein Name.
Detective Striker
Er zog Handschuhe an und nahm die Notiz auf. Faltete das Papier auseinander und las. Die Botschaft war kurz und direkt:
Sehr geehrter Detective Striker,
ich habe fünfzehn Jahre lang damit verbracht, das EvenHealth-Programm zu perfektionieren, indem ich unzählige Stunden selbstlos in die Arbeit mit meinen Patienten steckte. Ich habe alles geopfert für die sozial Schwachen und Kranken und bitte Sie inständig, dies zu berücksichtigen und meinen Ruf nicht zu zerstören.
Bevor Sie überstürzt reagieren – bevor Sie öffentlich enthüllen, was ich getan habe –, bedenken Sie das bitte … sehr genau. Die Videos. Sie sind, was sie sind. Ich bin nicht stolz auf diese Videos. Auch nicht auf meine Neigungen. Ich will ganz offen zu Ihnen sein; ich konnte mich einfach nicht bremsen. Ich konnte nicht aufhören – ich habe es immer wieder versucht, denn ich fühlte mich nachher schlecht, aber es hat nie geklappt.
Bitte, zeigen Sie niemandem diesen Brief. Und bitte, erzählen Sie niemandem, was ich getan habe. Vor allem nicht den Mitgliedern meines Berufsstandes. Das ist meine einzige Bitte.
Bei diesem Brief liegt der Schlüssel zu meinem Arbeitszimmer.
Ihr ergebener
Doktor Erich Reinhold Ostermann
75
Selbstmord, ein verdammter Selbstmord. Striker konnte es nicht glauben, dass es so endete.
Er las die Notiz dreimal und wurde mit jedem Mal frustrierter. Es war der Ausweg eines Feiglings, und der Detective empfand ein Gefühl der Leere, als wäre ihm etwas Wichtiges abhandengekommen.
Zudem fehlte von Larisa weiter jede Spur.
Er faltete das Papier zusammen und legte es wieder dorthin, wo er es gefunden hatte. Neben dem Brief lag ein Schlüssel zu Ostermanns Arbeitszimmer. Striker nahm ihn und kehrte zu Felicia in das große Schlafzimmer zurück.
»Abschiedsbrief?«, sagte sie.
Er nickte knapp.
»Dumm gelaufen«, knirschte er. »Komm, überprüfen wir die übrigen Zimmer. Ich will wissen, wo der Rest der Familie ist.« In seiner Stimme schwang ein Hauch von Besorgnis.
Je eher sie die anderen fanden, desto besser.
Sie verließen das Schlafzimmer und liefen die Treppe ins oberste Stockwerk hoch. Oben führten zwei Flure in den Ost- und Westflügel, ein dritter, kurzer Gang ging nach Norden.
Am Ende des einen Flurs befand sich ein weiteres Schlafzimmer, die Tür stand weit offen. Die beiden Detectives gingen hinein. Der Raum war sauber und aufgeräumt, die Kleider hingen ordentlich im Schrank. Das Einzelbett hatte Standardmaße. Striker tippte, dass es Gabriel Ostermanns Zimmer war.
Vom Schlafzimmer aus gesehen westlich schloss sich ein Loft an. Das große, lang gestreckte Zimmer wirkte wie ein privater Kinosaal, mit Overheadprojektor, Kinosesseln mit Getränkehaltern und einem Surround-Soundsystem, das in die Wände integriert war. Das Heimkino war beeindruckend, und Striker fragte sich, ob Ostermann seine Videos hier angeschaut hatte.
»Nichts Auffälliges«, meinte Felicia.
»Nichts Auffälliges«, wiederholte ihr Partner.
Sein Blick glitt durch den Gang. Inzwischen hatten sie sämtliche Räume überprüft. Alle, bis auf einen.
Das private Arbeitszimmer des Doktors.
Sie bogen in den kurzen Flur Richtung Nordseite, der offenbar in einen nachträglichen Anbau führte, und standen nach knapp fünf Metern vor einer verschlossenen Tür. Striker untersuchte das Türblatt. Schwere, massive Eiche.
Der Detective zögerte und schaute sich unschlüssig nach versteckt verlegten Kabeln und Schaltern um. Dr. Ostermann war offensichtlich ein Psychopath gewesen. Er konnte noch so viel über sein Renommee, sein Vermächtnis und das Wohlergehen seiner Patienten schwafeln, Striker glaubte ihm kein Wort. Er vertraute dem Mann keine
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