Zornesblind
Diplome, Zertifikate und Auszeichnungen hingen. Vielleicht auch ein paar Werbeplakate für das EvenHealth-Programm. Wenigstens ein paar Regale mit Büchern.
Aber da war nichts dergleichen.
In dem Büro standen lediglich ein hoher Eichenschrank, ein großer Schreibtisch und davor zwei bequem aussehende Ledersessel.
An den Wänden hingen drei Drucke: ein Matrose, der übers Meer schaut, ein kleiner Junge bei einem Arztbesuch und die indianische Darstellung eines Präriewolfs. Ein paar große Zimmerpflanzen lockerten das Ambiente auf, ansonsten nichts, was die Aufmerksamkeit der Patienten abgelenkt hätte.
Auf dem Schreibtisch standen ein Tintenstrahldrucker, ein Computer und eine Tastatur mit Maus. Striker versuchte, ob sich die Schubfächer öffnen ließen, aber sie waren alle verschlossen. Der Computermonitor war dunkel, und als er die Maus bewegte, wurde das Logo eingeblendet.
»Ohne Passwort läuft da nichts«, meinte Felicia.
»EvenHealth?«, schlug er vor.
»Das wäre zu einfach«, giggelte sie.
Sie hatte Recht, und er versuchte es erst gar nicht. Stattdessen trat er zu dem Schrank, der an der Längswand des Büros stand, und öffnete das TV -Fach. Dahinter stand ein kleines Fernsehgerät mit eingebautem DVD -Player. Ein Samsung. Auf dem Regal darunter standen Reihen mit DVD s, jede Hülle auf dem Rücken beschriftet. Striker suchte nach den Namen Larisa Logan und Mandy Gill, fand jedoch nichts. Aber eine DVD , die mit Billy Stephen Mercury etikettiert war. Dahinter in Klammern geschrieben: Kuwait. Afghanistan. PTSD .
PTSD – Posttraumatisches Stresssyndrom.
Er drehte sich zu Felicia um. »Ob das der besagte Billy ist?«
»Schreib dir seinen Namen auf. Los, beeil dich. Bevor Ostermann hier reinplatzt.«
»Ich weiß was Besseres«, versetzte er. Er schaltete den Fernseher ein, öffnete die DVD -Hülle und legte die Disk ein.
Felicia wurde sichtlich nervös. »Jacob, mach keinen Scheiß!«
»Bleib du an der Tür.«
»Ich soll an der Tür bleiben? Die ist keine zwei Meter weit entfernt von dir.«
»Bleib einfach da stehen, und spitz die Ohren. Wenn du ihn kommen hörst, gibst du mir ein Zeichen.«
»Ostermann kann jeden Augenblick zurückkommen. Und wenn ich ihn nicht höre, was dann?«
Striker grinste. »Dann geht hier die Post ab.« Er beugte sich vor und drückte die Play-Taste.
Sekunden später lief der Film ab.
Das Video hatte HD -Qualität, der Ton war jedoch leicht übersteuert. Die Kamera war links von Dr. Ostermann positioniert, der hinter einem leeren Schreibtisch saß. Ihm gegenüber saß ein junger Mann.
Es handelte sich ganz offensichtlich um ein anderes Büro, denn an den Wänden hing nicht ein einziges Bild.
Striker konzentrierte sich auf Dr. Ostermanns Gesprächspartner: Er war hellhäutig, entsetzlich dünn und ausgezehrt, trotzdem wirkte er drahtig und zäh. Der Detective schätzte ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Es war schwer zu sagen, denn dessen dunkelbraune Haare wurden an den Schläfen grau, und sein stoppeliger Bart war fast schlohweiß.
»Er sieht jung aus und gleichzeitig alt«, bemerkte Felicia.
Striker nickte wortlos und konzentrierte sich auf den Patienten auf dem Bildschirm.
Seine Haut war noch relativ glatt, doch um die Augen gruben sich tiefe Falten. Billy Mercury sah müde aus, als hätte er jahrelang kaum geschlafen, was seine fahle Blässe zusätzlich unterstrich. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, und beim Atmen hob und senkte sich seine Brust so hektisch, als würde er hyperventilieren.
Dr. Ostermann rückte mit seinem Sessel leicht nach links, direkt in den Fokus der Kamera. Er nannte Datum und Zeitpunkt des Gesprächs – es lag gerade mal zwei Wochen zurück – und stellte sich und seine Arbeit kurz vor.
Dann stellte er seinen Patienten vor.
»Mir gegenüber sitzt Billy Stephen Mercury«, sagte Ostermann in die Kamera. »Billy war als Soldat in Afghanistan stationiert. Siebtes Regiment, Elitetruppe. Nach seiner Rückkehr litt Billy unter starken Depressionen und nächtlichen Panikattacken. Schlafstörungen und Versagensängste waren die Folge. Nachdem bei ihm ein Posttraumatisches Stresssyndrom diagnostiziert wurde, ist er bei mir in Therapie und nimmt seit sieben Monaten am EvenHealth-Programm teil. Billy macht erkennbare Fortschritte, und wenn die Therapie erfolgreich verläuft, wird er demnächst entlassen und kann wieder ein ganz normales Leben führen. Seine Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit haben für uns oberste
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