Zu cool für dich
balancierte, und schob den Perlenvorhang beiseite.
Im Arbeitszimmer roch es nach Vanille. Ich musste mehrere, größtenteils noch halb volle Becher wegschieben, bevor ich den frischen Kaffee abstellen konnte. An den Rändern der gebrauchten Becher klebten schimmernde Lippenstiftspuren – perlmuttrosa, ihr Hauslippenstift. Auf dem Stuhl neben ihr lag zusammengerollt eine Katze, die mich halbherzig anfauchte, als ich sie runterschob, damit ich mich setzen konnte. Unmittelbar vor mir auf dem Tisch lag ein ordentlicher Stapel betippter Schreibmaschinenseiten. Ich hatte es gewusst: Sie war in ihrer Volldampfphase. Die Seitenzahl auf dem obersten Blatt lautete 207.
Aus Erfahrung wusste ich, dass ich sie besser nicht ansprach, bevor sie mit dem Satz – oder der Szene oder was sie eben gerade schrieb – fertig war. Deshalb machte ich es mir auf dem Stuhl bequem, nahm Seite 207 vom Stapel und überflog sie.
»Luc«, rief Melanie in den anderen Raum der Suite hinüber, doch die einzige Antwort war Schweigen. »Bitte!«
Keine Antwort von dem Mann, der sie nur wenige Stunden zuvor unter einem Rosenblütenregen geküsst und im
Beisein der gesamten Pariser Highsociety öffentlich geschworen hatte, dass er sie für immer lieben würde. Wie konnte ein Bett in der Hochzeitsnacht nur so verwaist und kalt sein? Melanie fröstelte in ihrem Spitzennegligé; und als ihr Blick auf ihren Brautstrauß – weiße Rosen und dunkelrote Lilien – fiel, den das Zimmermädchen auf den Nachttisch gestellt hatte, fühlte sie, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Der Strauß war noch so frisch, so neu. Melanie konnte sich gut daran erinnern, wie sie seinen Duft eingeatmet hatte, als sie ihr Gesicht in den vollen Blüten verbarg und begriff, wirklich begriff, dass sie nun Madame Luc Perethel war – ein überwältigender Moment, der ihr beinahe den Atem raubte. Diese Worte – Madame Luc Perethel – waren ihr einst magisch erschienen, wie ein Zauberspruch aus einem Märchen. Doch in diesem Moment verzehrte sie sich nicht nach ihrem frisch angetrauten Gemahl, sondern nach einem anderen Mann, in einer anderen Stadt als der, deren Lichtermeer sich vor dem geöffneten Fenster ausbreitete. Oh, Brock, dachte sie, wagte indes nicht, es laut auszusprechen. Denn sie fürchtete, dass die Worte fortgetragen werden könnten, dorthin, wo Melanie sie nicht mehr erreichen konnte. Dorthin, wo ihre wahre Liebe, die einzige große Liebe ihres Lebens war.
Uh, oh, ah, uh! Ich blickte auf. Meine Mutter hämmer te mit kraus gezogener Stirn in die Tasten, wobei sich ihre Lippen leicht bewegten. Was sie schrieb, war reine Fiktion. Definitiv, das wusste ich. Schließlich saß vor mir eine Frau, die schon Geschichten über Leben und Liebe der Reichen erfunden hatte, als wir noch Rabattmarken sammelten und unser Telefon wegen unbezahlterRechnungen regelmäßig abgestellt wurde. Außerdem stand Luc, der frisch gebackene kaltherzige Ehemann, nicht auf
Gesundheit garantiert
. Hoffte ich zumindest.
»Vielen Dank.« Meine Mutter entdeckte den frischen Kaffee, dehnte ihre Finger, nahm den Becher, trank einen Schluck. Ihre Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden; sie trug kein Make-up, einen Pyjama und die Leopardenpantoffeln, die ich ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und gähnte. »Ich habe die ganze Nacht geschrieben. Wie spät ist es?«
Durch die Perlenschnüre, die noch leicht hin und her schwangen, warf ich einen Blick auf die Küchenuhr. »Viertel nach acht.«
Seufzend führte sie den Becher wieder an die Lippen. Ich riskierte einen Blick auf das Blatt in der Schreibmaschine und versuchte zu entziffern, was als Nächstes geschah. Doch alles, was ich erkennen konnte, waren ein paar Zeilen Dialog. Offenbar hatte Luc doch einiges zu sagen.
»Es läuft anscheinend gut.« Ich deutete mit dem Kopf auf den Papierstapel neben meinem Ellbogen.
Sie winkte vage ab, nach dem Motto: so la-la. »Ich bin genau in der Mitte und du weißt ja, da hängt es immer ein bisschen. Aber gestern Nacht, beim Einschlafen, hatte ich plötzlich diese Eingebung. Schwäne.«
Ich wartete. Aber mehr schien sie mir nicht erzählen zu wollen. Stattdessen zog sie eine Nagelfeile aus dem Becher mit Stiften vor ihr und begann routiniert den Nagel ihres linken kleinen Fingers zu feilen.
»Schwäne«, wiederholte ich schließlich.
Sie warf die Feile auf die Schreibtischplatte und dehnte die Arme über
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