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Zu feindlichen Ufern - [3]

Zu feindlichen Ufern - [3]

Titel: Zu feindlichen Ufern - [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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befehligte. Er atmete bewusst – ließ die Luft in seine Lungen strömen, blies die Luft wieder aus. Und ihm war warm! Eine wohlige Wärme! Einen Moment lang lag er einfach nur da, fühlte die Wärme in seinem ganzen Körper und genoss diese Behaglichkeit wie eine Katze, die sich in der Sonne rekelt. Er hatte geglaubt, nie wieder ein Gefühl von Wärme zu spüren.
    Schließlich, mit großer Mühe, öffnete er die Augen. Er befand sich in einer schlichten Kammer, in der ein alter Schrank, eine Truhe, ein Flechtstuhl und eine Kommode mit vier Schubladen standen. Auf dem Stuhl saß ein Mädchen, das nicht viel älter als sieben Jahre sein konnte. Die Kleine sah ihn gespannt an und ließ ihre Beinchen vor und zurück wippen. Kaum hatte Hayden die Augen geöffnet, als das Mädchen in seinen Bewegungen innehielt, sich auf dem Stuhl vorlehnte – halb erschrocken, halb erstaunt – und auf den Boden sprang. Im nächsten Augenblick eilte es schon zum Zimmer hinaus.
    »Mama!«, rief sie. »Mama. Der Mann ist aufgewacht! Er ist nicht tot!«
    Hayden hörte Schritte vor der Tür, keine Kinderfüße, aber auch keine schweren Schritte. Dann erschien eine Frau von etwa dreißig im Türrahmen. Das Mädchen hing am Rockzipfel der Mutter und spähte vorsichtig in den Raum.
    »Ein Wunder«, sprach die Frau, machte auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus. »Jean!«, rief sie. »Jean! Hol den Doktor!«
    Schon war sie wieder in dem Zimmer und ging neben Haydens Bett in die Hocke. Ihre Röcke raschelten.
    » Monsieur? Monsieur? Können Sie mich hören?«
    »Ja, Madame, merci vous .«
    »Kaum zu glauben, dass er noch lebt«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Gott muss Sie lieben, Monsieur .« Sie erhob sich, beugte sich über ihn und sprach laut, als hielte sie ihn für taub. »Ich bringe Ihnen etwas Suppe, Monsieur . Suppe …«
    Hayden lag mit geschlossenen Augen da und lauschte dem Gesang der Vögel, der durch das offene Fenster hereindrang. Der Duft von frisch geschnittenem Gras stieg ihm in die Nase. In der Ferne muhten Rinder, und dann hörte er eilige Schritte – jemand rannte, als hänge das Leben eines Menschen am seidenen Faden.
    Er verspürte kein Verlangen, sich zu bewegen, und blieb still liegen, halb auf der Seite. Seine Brust sank beim Einatmen in die Matratze. Eine Weile horchte er auf seinen Atem, blinzelte. Dann betrat jemand die Kammer, aber Hayden schlief ein. Er glitt erneut in die allumfassende Dunkelheit und den Gesang der Nachtigall.
    In der Ferne ertönte eine Glocke, aber Hayden zählte die Schläge nicht. Erneut öffnete er die Augen und sah wieder das kleine Mädchen. Es saß auf dem Stuhl, schwang die Beine vor und zurück und sang leise vor sich hin.
    »Mademoiselle«, krächzte er, doch sein Mund war so trocken, er konnte ihn kaum öffnen.
    Das Mädchen hüpfte wie zuvor vom Stuhl, rannte aus dem Raum und rief: »Mama! Er spricht! Mama!«
    Schritte näherten sich, wurden lauter, doch herein kam nicht die Mutter der Kleinen, sondern ein Gentleman. Er setzte sich einen Zwicker auf die Nase, zog den Flechtstuhl ans Bett, nahm schwerfällig Platz und ergriff Haydens Hand. Dann holte er eine Uhr aus der Tasche, machte den Sprungdeckel auf und fühlte ausgiebig Haydens Puls.
    »Lebe ich noch?«, fragte Hayden leise auf Französisch.
    »Ja, so sieht es aus, Monsieur , aber wie Sie das geschafft haben, weiß ich auch nicht. Sie waren sozusagen zu Eis gefroren, als Sie an Land kamen, und atmeten kaum noch. Viele hielten Sie am Strand für tot. Sie können von Glück reden, dass ich auch vor Ort war, denn ich stellte fest, dass Sie noch am Leben waren. Ich war es auch, der dafür sorgte, dass Sie hierhergebracht wurden, in das Haus von Charles Adair. Drei Tage schwebten Sie in jenem düsteren Raum zwischen Leben und Tod. Tatsache ist, Sie waren dem Tode so nahe, dass ich mich frage, ob Sie die Pforten des Himmels gesehen haben. Einige Menschen haben mir davon berichtet, müssen Sie wissen.«
    Hayden schüttelte den Kopf – zu einer anderen Bewegung war er nicht fähig. »Ich bin durch einen dunklen Wald gewandelt, einen Wald voller Nebel und Schatten – ich folgte dem Ruf der Nachtigall. Dann wachte ich auf und sah dieses Mädchen, das über mich wachte. Vielleicht ist sie ein Engel.«
    »Ja, einen Engel würde die Kleine gewiss gern spielen.«
    Der Doktor ließ Haydens Handgelenk los und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, die Hände auf die Knie gestützt. »Ihr Puls ist noch nicht sehr stark, aber ich glaube, Sie

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