Zu Grabe
verschrumpeltes Etwas, das sich bei näherer Betrachtung, sehr zu Morells Entsetzen, als Schrumpfkopf entpuppte. In dem Raum gab es außerdem noch mehrere gerahmte Urkunden und Landkarten, eine Vielzahl von Fotos und einen kleinen Aktenschrank. Das Herzstück des Zimmers war aber der imposante Schreibtisch, der aus dunklem Edelholz gefertigt und mit wunderschönen Schnitzereien und Intarsien verziert war. Das hier war ein Büro für teuren Singlemalt und jahrelang gereiften Cognac – keines für selbstgebrannten Fusel.
Payer, der mit Morell in das Büro gegangen war, schien dessen Gedanken gelesen zu haben. »Ja, der gute alte Vitus hatte Geschmack und vor allem Geld«, stellte er fest. »Der musste sich im Gegensatz zu mir nie Sorgen um die Finanzierung seiner Forschungen machen.«
Der Chefinspektor musterte den Professor. Hier hatte er seinen ersten Verdächtigen: Neid war immer ein starkes Motiv und drängte sich in diesem Fall – verglich man die beiden Büros – geradezu auf. Allerdings traute er dem kauzigen Schnapstrinker eine solche Gräueltat nicht wirklich zu. Er ließ seinen Blick weiterwandern, bis dieser an einem dunklen Fleck in der hinteren Ecke des Raumes hängen blieb.
»Da hinten hat der Mörder den armen Vitus niedergeschlagen.« Payer zeigte auf eine eingetrocknete Blutspur, die auf dem hellen Teppich gut zu erkennen war. »Und darüber hat er ihn dann weggeschleift.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Eine schreckliche Sache! Und das alles direkt neben meinem Büro. Apropos – genau dorthin werde ich jetzt wieder verschwinden. Ich habe noch einiges zu erledigen.«
Morell nickte und beneidete Payer, der sich in sein kleines Bücherloch verziehen konnte, während er sich hier mit einem blutigen Tatort beschäftigen musste. Er schloss die Tür leise hinter dem Professor und atmete tief ein. Wieder einmal befand er sich am Schauplatz eines grausigen Verbrechens, und das, obwohl er sich so sehr gewünscht hatte, nie wieder mit Mord oder Totschlag konfrontiert zu werden.
»Augen zu und durch«, versuchte er sich selbst zu motivieren und beschloss, sich als Erstes die vielen Fotos, die an der Wand hingen, anzusehen. Sie zeigten Landschaften, Ausgrabungsstätten, Gruppen von Menschen und einzelne Fundstücke. Ein Mann kam auf fast allen Bildern vor – das musste das Opfer sein. Novak war ein gepflegter älterer Herr gewesen, der auf so gut wie jeder Aufnahme, ganz gleich ob in der Wüste oder im Regenwald, mit einem schicken Hut und einem weißen Leinenanzug bekleidet war – ein richtiger Sir. So in etwa musste Howard Carter ausgesehen haben, als er im Tal der Könige nach dem Grab von Tutanchamun suchte. Morell überlegte – starb Carter nicht eines unnatürlichen Todes, der auf einen Fluch zurückgeführt wurde? Er hatte doch erst kürzlich im Fernsehen eine Doku darüber gesehen. Hatte Novak etwa auch ein Grab zu viel geöffnet? Der Chefinspektor schüttelte den Kopf. Was für ein dummer Gedanke. Payers Hochprozentiger hatte tatsächlich eine Spur der Verwüstung in seinem Hirn hinterlassen.
Morell durchsuchte die Schränke und Schreibtischschubladen, fand aber nichts außer komplizierten Berichten, unverständlichen Grabungsdokumentationen und Artikel voller Fachchinesisch. Er sah sich die Souvenirs im Glasschrank genauer an, wobei er den abstoßenden Schrumpfkopf so gut wie möglich ignorierte, und blätterte schlussendlich sogar noch die Bücher im Regal durch – NICHTS .
Frustriert setzte er sich in den üppig gepolsterten Ledersessel hinter dem Schreibtisch und lehnte sich zurück. Was war Novak für ein Mensch gewesen? Wer konnte einen Grund gehabt haben, ihn umzubringen? Je länger er so dasaß und versuchte, den Raum auf sich wirken zu lassen, um auf diese Weise etwas über das Opfer zu erfahren, desto stärker beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas in diesem Zimmer war nicht in Ordnung. Es war wie bei einem dieser Bilderrätsel, bei denen man den Fehler finden musste. Morell setzte sich aufrecht hin und ließ den Blick wandern.
Es dauerte nicht lang, bis er den Störfaktor entdeckte: Es fehlte ganz offensichtlich ein Foto. Zwischen mehreren Bilderrahmen, die auf dem Glasschrank standen, klaffte klar und deutlich eine Lücke. Morells Vermutung wurde durch die Tatsache untermauert, dass an besagter Stelle ein Abdruck, umgeben von einer dünnen Staubschicht, zu sehen war – der Bilderrahmen samt Inhalt musste also erst vor kurzer Zeit
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