Zu Grabe
Flusses, die feinen Tröpfchen von Nieselregen auf der Haut, das feuchte Gras unter den Schuhen, die kahlen Zweige des Gebüschs, in denen sich die menschlichen Überreste verfangen hatten, die vielen Stimmen, die die Ruhe dieses trüben Morgens durchbrachen, und den leichten – aber doch unverkennbaren – Verwesungsgeruch, der in der Luft lag.
Zwei Feuerwehrmänner mit Mundschutz waren gerade dabei, mit Hilfe eines Arbeitskrans und eines langen, gebogenen Hakens den Körper zu bergen, während die Leute von der Spurensicherung die Umgebung absuchten und Fotos vom Fundort machten. Zwei junge Polizisten verdeckten mit einer riesigen Plastikplane die Sicht auf die Leiche, um ein paar sensationsgeile Gaffer davon abzuhalten, mit ihren Handys den grausigen Fund für die Nachwelt zu dokumentieren.
Sie ließ gerade ihren geschulten Blick über das Szenario wandern, als ein junger Mann auf sie zukam. »Sie müssen Frau Dr. Capelli sein«, sagte er. »Jochen Kern, ich bin Ihr Obduktionsassistent.«
Capelli lächelte und musterte den Mann. Er war ungefähr Anfang dreißig und hatte ein angenehmes, sportlich-lässiges Erscheinungsbild.
»Willkommen in Wien«, sagte Kern und reichte ihr einen Schutzanzug. »Von mir aus können wir uns sofort an die Arbeit machen.«
Wenn ein Toter aus der Donau gezogen wurde, lag meist ein Selbstmord oder ein tragisches Unglück vor. In diesem Fall handelte es sich aber mit ziemlicher Sicherheit um Mord. Der Tote hatte nämlich ein besonderes Merkmal, das Capelli ganz und gar nicht gefiel: Er hatte keinen Kopf mehr.
»Na, sieh mal einer an«, sagte Kern, nachdem er einen Blick auf den Körper geworfen hatte. »Wenn das nicht der Rest von Professor Novak ist. Haben Sie von der Sache gehört?«
Die Gerichtsmedizinerin schwieg und dachte fieberhaft nach. Es wäre unprofessionell, die Obduktion vorzunehmen. Ihr Freund war schließlich der Hauptverdächtige in diesem Mordfall – sie war also befangen. Andererseits konnte sie so vielleicht an wichtige Informationen gelangen, die Otto Morell helfen könnten, Leander zu entlasten.
Capelli entschloss sich dazu, das Risiko einzugehen. Sie war neu hier, niemand wusste etwas von ihrer Beziehung. Und überhaupt – wer sagte denn, dass es sich bei dem kopflosen Toten tatsächlich um Novak handelte? Zugegeben, die Chancen dafür standen gut, aber bewiesen war es nicht.
»Kommen Sie?« Kern reichte ihr den Tatortkoffer, der alle nötigen Geräte, Instrumente, Behältnisse und Reagenzien enthielt, die die Gerichtsmedizinerin brauchte, um die Leiche vor Ort zu untersuchen.
Capelli griff danach. ›Wird schon keiner draufkommen‹, dachte sie und begann mit ihrer Arbeit.
Nach der Totenbeschau und dem Lokalaugenschein am Donauufer machten sich Capelli und ihr Obduktionsassistent auf den Weg zum Wiener Zentralfriedhof, der mit rund drei Millionen Bestatteten der zahlenmäßig größte Friedhof Europas war.
»Das Gebäude in der Sensengasse wurde im Frühjahr zum Teil geschlossen«, erzählte Kern. »Es war seit den 60er Jahren kaum renoviert worden und entsprach nicht mehr den nötigen Anforderungen. Es fehlte zum Beispiel ein modernes Filtersystem – sämtliche Körperflüssigkeiten flossen beinahe ungeklärt in die Kanalisation.«
»Das wusste ich.« Capelli bog in die Simmeringer Hauptstraße, die von Alfred Polgar einmal als die traurigste Straße Wiens bezeichnet worden war. »Ich dachte aber eigentlich, dass die Obduktionen in verschiedene Krankenhäuser ausgelagert wurden. Warum fahren wir also zum Friedhof?«
»Faul- und Wasserleichen stellen für die Spitäler ein immenses Hygieneproblem dar. Darum werden solche Leichen jetzt übergangsweise in Containern auf dem Zentralfriedhof obduziert.«
»Container? Das ist ja ein Riesenschritt zurück in Richtung Mittelalter.« Capelli betrachtete die unzähligen Wirtshäuser, Steinmetz- und Blumengeschäfte, die die Straße säumten. Mit dem Tod ließ sich viel Geld verdienen.
»Wem sagen Sie das. Die Zahl der Obduktionen wurde drastisch reduziert. Wien wird zum Paradies für Mörder. Wenn Sie irgendjemanden um die Ecke bringen wollen, dann tun Sie es jetzt. Die Chancen, unentdeckt zu bleiben, stehen so gut wie nie.«
»Hoffentlich nicht.« Capelli dachte voller Kummer an Lorentz.
»Dort vorne links können Sie reinfahren«, riss Kern sie aus ihren Gedanken. »Die Friedhofswege dürfen mit dem Auto befahren werden – aber nur mit 20 km/h.«
Capelli bog vorsichtig durch ein
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