Zu Grabe
verglichen. Und wenn ich mich nicht täusche, habe ich das Rätsel gelöst und das richtige Bild identifiziert.«
»Sie waren am Tatort? Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war«, setzte Morell an, wurde aber von der hübschen Studentin unterbrochen.
»Keine Sorge – die Spurensicherung hat ihre Arbeit gestern Abend beendet und das Büro freigegeben.«
»Gut, dann erzählen Sie mal, was Sie herausgefunden haben.«
»Gern«, nickte sie mit geröteten Wangen. »Novak war ein ziemlicher Pedant und hat auf den Rückseiten seiner Fotos fein säuberlich alle Orte und Daten notiert. Es war also ganz leicht, das fehlende Bild zu eruieren. Es handelt sich um ein Gruppenfoto, das 1978 auf einer Grabung in Syrien, genauer gesagt auf dem Tell Brak, aufgenommen wurde.« Sie zog ein Blatt Papier aus dem Packen in ihrer Hand und begann vorzulesen: »Der Tell Brak ist ein antiker Siedlungshügel, der von den Sumerern und später auch von den Akkadiern, Hurritern und Assyrern besiedelt worden war. Er wurde 1934 von Sir Max Mallowan, dem Mann von Agatha Christie, entdeckt und in den darauffolgenden Jahren erforscht. Dabei machte Mallowan einen spektakulären Fund, nämlich den sogenannten Augentempel – eine alte Kultstätte, in der sich eine Vielzahl von Augenidolen befand.«
»Augenidole?« Morell hatte noch nie von so etwas gehört.
»Das sind kleine, drei bis sechs Zentimeter hohe Figuren aus Alabaster, Kalk- oder Speckstein. Sie haben meist einen flachen, trapezförmigen Körper, auf dem anstelle eines Kopfes Augen sitzen«, las Wondraschek weiter vor. »Obwohl das Symbol des Auges in Mesopotamien weit verbreitet war, sind diese Statuetten einzigartig und mit keinem anderen Fund vergleichbar.«
»Was steht da noch?«
»Leider nicht viel – nur noch die Namen der Teilnehmer. Vielleicht kann uns ja einer von denen weiterhelfen.« Sie reichte Moritz Langthaler die Liste. »Ich kenne leider keinen von ihnen. Du vielleicht?«
Langthaler studierte die Aufstellung und schüttelte den Kopf. »Abgesehen von Novak kenne ich keinen der Männer.«
»Vielleicht kann uns ja Professor Payer weiterhelfen«, schlug Wondraschek vor. »Er ist immerhin schon ein bisschen älter, hat sehr viel Erfahrung und kennt ohnehin Gott und die Welt.«
»Immer nur hereinspaziert«, rief Payer fröhlich, nachdem Langthaler an die Bürotür geklopft hatte, und winkte die drei Besucher zu sich. »Was verschafft mir die Ehre?«
Morell schlängelte sich durch die Büchermassen und setzte sich auf den Gästehocker, während Anna Wondraschek die innenarchitektonische Meisterleistung vollbrachte, zwei weitere Stühle aus dem Flur in dem kleinen Büro unterzubringen.
»Wir haben herausgefunden, welches Foto fehlt – nämlich eines, das 1978 in Syrien aufgenommen wurde, und zwar …«, Morell schielte auf Wondrascheks Unterlagen, »… auf einem gewissen Tell Brak.« Er reichte Payer die Teilnehmerliste. »Kennen Sie vielleicht eine oder mehrere dieser Personen?«
Payer strich über seinen Bart und grübelte. »Die syrischen Grabungshelfer kenne ich natürlich alle nicht, und Vitus Novak ist seit Montag tot.« Er las weiter und fing plötzlich an zu grinsen. »Wilfried Uhl. Von dem verrückten Kauz habe ich ja schon ewig nichts mehr gehört. Crazy Willie, so haben ihn früher alle genannt, hat eine Zeitlang gemeinsam mit mir studiert. Leider hat er nach wenigen Semestern das Studium abgebrochen, um in der Weltgeschichte herumzutrampen. Irgendwann ging einmal das Gerücht herum, dass er eine Strandbar auf Kreta betreibe.«
Morell fischte einen Stift aus dem Chaos auf dem Schreibtisch und kreuzte den Namen Wilfried Uhl an.
»Ludwig Nagy ist ein bekannter Entomologe – er lebt irgendwo hier in Wien«, redete Payer weiter. »Die letzten drei Namen, Gustaf Harr, Friedrich Zuckermann und Johannes Meinrad, sagen mir leider nichts.«
Morell machte vier weitere Markierungen. Er würde alle Personen, die mit einem Kreuzchen versehen waren, ausfindig machen und befragen. »Könnte eines dieser Augenidole, die auf der Grabung gefunden wurden, von Wert sein?«, wollte er wissen.
Payer stand auf und begann in einem Stapel Bücher herumzuwühlen. Kurz darauf zog er einen dicken Katalog heraus und blätterte darin herum. »Ah, da sind sie ja.« Er zeigte seinen Gästen ein paar Bilder von den Statuetten.
Anna Wondraschek wandte sich an Morell. »Schauen Sie nur, wie filigran die kleinen Körper gearbeitet sind. Sehr bemerkenswert und
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