Zu Grabe
war.
»Hallo Robert, hier spricht Morell. Na, wie läuft’s bei dir?«
»Wunderbar.« Bender versuchte angestrengt, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich habe alles im Griff. Sie können ohne weiteres noch in Wien bleiben und sich um den armen Leander Lorentz kümmern.«
»Genau darum rufe ich an. Ich brauche für meine Ermittlungen die Aufenthaltsorte von ein paar Personen und wäre froh, wenn du sie für mich herausfinden könntest.«
»Klar, Chef, kein Problem. Einen kleinen Moment – ich hole mir nur schnell was zum Schreiben.« Er schnappte sich einen Bleistift und ein Blatt Papier. »Ich bin bereit, schießen Sie los!«
Morell diktierte ihm die fünf Namen: Gustaf Harr, Ludwig Nagy, Friedrich Zuckermann, Johannes Meinrad und Wilfried Uhl.
»Alles klar, ich werde versuchen, ihre aktuellen Adressen herauszufinden, und melde mich wieder bei Ihnen, sobald ich etwas habe.«
»Danke, Robert. Und was macht Fre…«
»Also dann, bis später.« Bender legte einfach auf, bevor Morell sich nach seinem Kater erkundigen konnte.
Nach dem aufwühlenden Telefonat fiel es Bender schwer, sich erneut zu konzentrieren. Er versuchte es trotzdem, und tatsächlich fing das Pendel an sich zu bewegen: Es beschrieb einen weiträumigen Kreis, der vom Hotel Adler im Westen bis zum Badesee im Süden, hin zum Wald im Osten und der Burg im Norden von Landau reichte. Trotz mehrerer Versuche wollte es seinen Radius nicht einschränken.
»Na wunderbar«, murmelte Bender entnervt. »Fred befindet sich also irgendwo hier in Landau. Wie gut zu wissen, dass das blöde Mistvieh nicht nach Brasilien ausgewandert ist.«
Er warf das 36 Euro teure Pendel in den Papierkorb, holte sich eine Tasse Kaffee und machte sich daran, Morells Adressen zu recherchieren.
»Nun genügt ein Grab ihm, dem die ganze Welt nicht genug war.«
Epitaph an einer Gedenkstätte für Alexander den Großen
Den ganzen Tag schon war er ruhelos und ungeduldig gewesen und hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht das ganze Tagebuch in einem Zug zu verschlingen. Doch er hatte es geschafft, sich zu beherrschen und auf den richtigen Augenblick zu warten – den Augenblick, der jetzt gekommen war und in dem er die nötige Ruhe und Muße hatte, jedes Wort ganz genau zu lesen, kein Detail zu übersehen und auch das wahrzunehmen, was zwischen den Zeilen stand. Alles war wichtig! Jedes Komma, jeder Punkt, jeder noch so kleine Buchstabe verdiente seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Er befühlte die derbe Struktur des ledernen Einbands und ließ noch einmal die letzten Einträge vor seinem inneren Auge Revue passieren: Novak hatte mehr als zwei Jahre lang versucht, Alulims Grab in der antiken Stadt Eridu, die sich im heutigen Irak befand, zu lokalisieren, weil sich laut der Legende dort der Palast des mythischen Königs und der Haupttempel des Gottes Enki befunden haben sollen – aber er hatte keinen Erfolg gehabt. Doch wenn sich das Grab nicht in Eridu befand, wo war es dann? Er würde es hoffentlich gleich erfahren.
Wien, 14. Oktober 1977
So viel Zeit habe ich damit verschwendet, genau denselben Fehler zu machen wie all die anderen Archäologen, Abenteurer und Grabjäger, die auf der Suche nach Alulims letzter Ruhestätte sind. Glücklicherweise hat das Schicksal mir einen Artikel von Prof. David Oates aus Cambridge in die Hände gespielt, in dem es um den Fund eines Massengrabs am nordwestlichen Rand des Tell Brak geht – und plötzlich war mir alles klar: TELL BRAK . Natürlich. Wie konnte ich denn nur so dumm sein und den berühmten Augentempel außer Acht lassen? (Unter dem schützenden Blick von Enkis eintausend Augen …)
Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass ich das Rätsel gelöst habe. Die Sumerer praktizierten nämlich den Ritus des Menschenopfers und wenn einer ihrer Könige starb, wurde meist der ganze Hofstaat getötet und in seiner Nähe begraben – der Fund dieser Massenbestattung passt also ganz genau ins Bild (… von seinen Treuen begleitet …).
Eine glückliche Fügung hat ergeben, dass Dr. Gustaf Harr vom Österreichischen Archäologischen Institut im kommenden Frühjahr mit einer Gruppe von Experten nach Tell Brak reisen wird. Ich werde mich dem Team als Hilfskraft anschließen und hoffe, dass ich eine Möglichkeit finden werde, unbemerkt ein paar eigene Nachforschungen anstellen zu können. Bis dahin bange und bete ich, dass Alulims Grab unentdeckt und unangetastet bleibt.
So war das also, dachte er: Ein kleiner, unscheinbarer Artikel
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