Zu Grabe
einfach wunderschön, finden Sie nicht auch?«
Morell nickte. In Wahrheit fand er die kleinen Steinfiguren aber einfach nur scheußlich. Sie schienen mit ihren übergroßen, ausdruckslosen Augen förmlich durch ihn hindurchzustarren. Die meisten von ihnen wirkten unfreundlich, ja sogar fast bösartig. Es musste ein sonderbares Gefühl für Mallowan gewesen sein, einen Raum zu betreten und von mehr als tausend dieser schrecklichen Dinger fixiert zu werden. Wer hatte sie geschaffen? Zu welchem Zweck? Was hatten sie im Laufe der Jahrtausende wohl alles gesehen? Und vor allem: Was hatten sie mit dem Mord an Vitus Novak zu tun?
»Die Augenidole, die nicht in irgendwelchen Museen stehen, werden unter der Hand zwischen 300 und 3000 Pfund gehandelt«, riss Payer Morell aus seinen Gedanken. »Nicht unbedingt ein Preis, für den es sich lohnen würde, jemanden zu töten. Wobei«, er seufzte, »wenn das Ministerium meine Forschungsgelder noch weiter kürzt, werde ich wahrscheinlich bald wegen weitaus kleinerer Beträge eine kriminelle Laufbahn einschlagen müssen.«
»Könnte Novak auf irgendetwas anderes gestoßen sein, das wertvoller als die Idole war?«
Payer zuckte mit den Schultern. »Normalerweise finden wir keine Kisten voller Gold und entdecken auch keine jahrhundertealten Geheimnisse, die die Weltordnung durcheinanderbringen könnten. Das Fundspektrum auf einer normalen Grabung umfasst Steine, Knochen, Asche, Scherben und hie und da mal ein paar Münzen – Dinge, die von hohem wissenschaftlichem, aber nicht von materiellem Wert sind.« Er kraulte seinen Bart. »Andererseits hatte Novak im Gegensatz zu mir und den meisten anderen Kollegen nie Geldprobleme …« Er winkte ab. »Am besten, Sie fragen die Männer, die damals mit dabei waren.«
»Da haben Sie wohl recht – und am besten fange ich sofort damit an.« Morell stand auf, bedankte sich bei den drei Archäologen, verabschiedete sich und ging zur Tür.
»Herr Morell«, rief Payer ihm nach. »Halten Sie uns auf dem Laufenden. Und richten Sie Wilfried Uhl schöne Grüße von mir aus!«
»Den Ort, wo sich die geliebten Toten befinden, weiß ich nicht;
den, wo sie sich nicht befinden, weiß ich: das Grab.«
Christian Friedrich Hebbel
In Landau herrschte im Gegensatz zu Wien prächtiges Wetter. Kein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel, die Sonne strahlte so kräftig, als gäbe es kein Morgen, und eine laue Brise entlockte den bunten Blättern in den Bäumen ein vergnügtes Rascheln.
Während der Großteil der Bevölkerung die Gelegenheit nutzte, um zu wandern, im Garten zu arbeiten oder einfach nur im Freien zu sitzen und den schönen Tag zu genießen, saß Robert Bender bei geschlossenen Fenstern und zugezogenen Jalousien im Büro und bekam von der wunderbaren spätsommerlichen Stimmung nichts mit. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit richtete sich einzig und allein auf das Wiederfinden von Fred.
Nachdem seine großangelegte Suchaktion und das Hinzuziehen des Försters keinen Erfolg gehabt hatten, brachte er nun eine unkonventionellere Methode zum Einsatz – nämlich Pendeln. Er ließ den kleinen Kristall, den er in einem Esoterikladen in Innsbruck gekauft hatte, über dem Ortsplan von Landau hin und her schwingen und kam sich unheimlich blöd dabei vor. »Egal«, wischte er seine Skrupel beiseite – erstens wusste ja keiner, was er hier tat, und zweitens war alles besser, als Morell erklären zu müssen, dass sein geliebtes Fellmonster verschwunden war. Er atmete also tief ein, schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.
Während das Pendel über der Karte kreiste, war es in der Polizeiinspektion, abgesehen von dem leisen Blubbern der Kaffeemaschine, mucksmäuschenstill. Schon seit Tagen herrschte hier tote Hose: Es gab keine Einbrüche, keine Diebstähle, keine Ruhestörungen – nicht einmal eine kleine Schlägerei. Anscheinend genossen die Einwohner von Landau die letzten spätsommerlichen Tage und sparten sich sämtliche kriminellen Energien für später auf. Umso besser, dachte Bender. So hatte er mehr Zeit, den Kater wiederzufinden.
Als plötzlich das Telefon mit einem schrillen Läuten die Stille durchschnitt, erschrak Bender so sehr, dass er das Pendel fallen ließ. »Herrjeh«, stöhnte er und griff sich ans Herz. Ausgerechnet jetzt musste irgendjemand anrufen – das war ja klar.
»Polizeiinspektion Landau. Inspektor Bender am Apparat«, meldete er sich und bekam den zweiten Schreck, als er hörte, wer am anderen Ende
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