Zu Grabe
Pracht vor uns lag: massiv, majestätisch und unendlich geheimnisvoll.
Im Zentrum der Grabplatte waren ähnliche Keilschriftzeichen eingemeißelt wie auf der goldenen Tafel aus Ebla. Da ich mittlerweile sehr geübt in deren Entzifferung bin, las ich sie laut vor:
Ich bin der große Magier Adapa.
Ich bin der Geist, der das Grab des Alulim schützt.
Über jeden, der versucht, die Ruhe meines Herrn zu stören,
werde ich Tod und Krankheit bringen,
so dass er verdorben sei,
für jetzt und für alle Zeit.
Ich weiß nicht, was in Zuckermann gefahren war – jedenfalls warf er seinen Spaten hin und erklärte mir, dass er nichts mit verwünschten Gräbern am Hut haben wolle. Anschließend ließ er mich einfach stehen und verschwand.
Nun sitze ich hier und überlege, wie ich weiter vorgehen soll. Ich werde sicher noch zwei oder sogar drei Männer benötigen, um die massive Platte wegzurücken. Aber wen? Wen soll ich fragen? Wem kann ich trauen?
Tell Brak, 18. Mai 1978
Ich habe mich entschieden, Zuckermann, diesen abergläubischen Hasenfuß, links liegen zu lassen und statt ihm entweder Wilfried Uhl, Ludwig Nagy oder Johannes Meinrad ins Vertrauen zu ziehen. Ich hoffe, ich habe ihre Interessen und Motivationen richtig gedeutet: Uhl ist so verrückt, dass er für ein Abenteuer seine eigene Großmutter verkaufen würde, Nagy ist sehr an wertvollen Dingen interessiert, und Meinrad ist so versessen auf die sumerische Kultur, dass er wahrscheinlich aus Liebe zur Wissenschaft mitmachen würde. Ich weiß noch nicht, wen von ihnen ich einweihen soll, oder ob ich vielleicht sogar die Hilfe von allen Dreien brauche – ich werde das später entscheiden. Fest steht auf jeden Fall, dass es heute Nacht losgehen wird. Heute Nacht werde ich mir meinen Platz im Olymp der großen Entdecker sichern. Es ist der 18. Mai 1978 – ein Datum, das mein Leben verändern wird.
»Aber leider nicht zum Guten«, murmelte er und legte das Tagebuch beiseite. Er musste sich sammeln, denn gleich würde er erfahren, was in jener Nacht tatsächlich geschehen war.
»Solange das Schachspiel dauert, hat jede Figur ihre Bestimmung;
ist es aber aus, so mischt man sie untereinander
und wirft sie in einen Beutel, wie man die Toten ins Grab wirft.«
Miguel de Cervantes
Die geheimnisvolle Schachtel, die Stimpfl aus dem Haus der Novaks gestohlen hatte, ließ Capelli keine Ruhe. Möglicherweise lag darin ja der Schlüssel zur Lösung des Falls und somit zu Leanders Freiheit. Sie musste unbedingt herausfinden, was sich in ihr befand – koste es, was es wolle.
Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht, wie sie die Schachtel am besten an sich bringen konnte, und als die Morgensonne die ersten Strahlen durch das Fenster geschickt hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass es nur eine Möglichkeit gab: Sie musste mit denselben Methoden arbeiten wie Stimpfl. Sie musste einbrechen. Wenn Morell das herausfand, würde er zwar richtig verärgert sein – er hatte schon wegen ihrer gestrigen Beobachtungsaktion einen ziemlichen Aufstand gemacht –, aber was getan werden musste, musste getan werden.
Nach einem hastigen Frühstück, bei dem sie vor lauter Aufregung kaum einen Bissen hinunterbekommen hatte, hatte Capelli sich Lorentz’ Werkzeugkasten, ein Paar medizinische Einweghandschuhe, eine Mütze und einen Blaumann geschnappt und war noch einmal den Plan durchgegangen, den sie sich überlegt hatte. Er war ganz einfach: Sie würde sich als Handwerker verkleiden, warten, bis Stimpfl das Haus verließ, und dann versuchen, ein Fenster oder eine Tür zu knacken – sie hatte sich im Internet ein paar Seiten zum Thema Einbruchdiebstahl angesehen und war zu der erschreckenden Einsicht gelangt, dass es überraschend einfach war, unbemerkt in ein Haus einzudringen.
Mit Hummeln im Hintern und Grummeln im Bauch hatte sie sich anschließend auf den Weg nach Döbling gemacht und wartete nun nervös darauf, ihren Plan in die Realität umsetzen zu können.
Es dauerte zum Glück nicht lange, bis Stimpfl das Haus verließ. Capelli wartete geduckt, bis der Priester aus ihrem Blickfeld verschwunden war, zog dann das Handwerker-Outfit an, schnappte sich das Werkzeug und näherte sich dem Gebäude. Unvermittelt musste sie an ihre Schulzeit denken. Daran, dass sie immer als uncool gegolten hatte, als langweilige Streberin und öde Spaßbremse – nur weil sie stets gute Noten hatte und keinen Ärger machte. Als sie eines Tages all
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