Zu Grabe
gar nicht erst ausmalen.
»Alles wird gut«, zitierte er die Verkäuferin aus dem Esoterikladen. »Immer schön positiv denken.«
Als der letzte Tropfen Baldrian vergossen war, fuhr Bender zurück in die Inspektion und versuchte weiter, den ominösen Gustaf Harr aufzutreiben.
»Wahrlich ist der Mensch der König aller Tiere,
denn seine Grausamkeit übertrifft die ihrige.
Wir leben vom Tode anderer.
Wir sind wandelnde Grabstätten!«
Leonardo da Vinci
Er lag auf dem Boden und starrte an die Decke. Hätte ein Außenstehender ihn so sehen können, hätte er den Mann wahrscheinlich als ruhig und gelassen beschrieben, doch der Schein trog. In ihm brodelte es. Eine Mischung aus Enttäuschung, Wut, Reue und Angst wirbelte in seinem Kopf umher und führte dazu, dass er nicht mehr klar denken konnte.
Er hasste Novak, er hasste die Welt, und er hasste sich selbst. Er schlug mit der Faust gegen die Wand und konzentrierte sich auf den Schmerz. »Gut«, sagte er, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schlug noch einmal zu. »Ich bin so weit gekommen. Ich werde jetzt nicht aufgeben.« Er stand auf, genehmigte sich einen Schluck Hochprozentigen und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er durfte sich von diesem Rückschlag nicht aus der Ruhe bringen lassen – viele Wege führten ans Ziel.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das zerbeulte Tagebuch, das auf dem Boden lag, und merkte, wie sich das Chaos in seinem Kopf langsam lichtete. Novaks Aufzeichnungen hatten ihm zwar nicht verraten, was er wissen wollte, aber sie hatten ihm mitgeteilt, wer es ihm eventuell sagen konnte …
Er hob das Tagebuch auf und fing erneut an, darin herumzublättern. »Ich bin kein Verlierer mehr«, sagte er, als er fand, wonach er gesucht hatte – die Namen derer, die Novak ins Vertrauen ziehen wollte. Langsam strömte neue Zuversicht durch seinen Geist und verdrängte die chaotischen, schlechten Gefühle von vorhin.
Er entschied, dass er mit Johannes Meinrad anfangen würde. Wenn dieser irgendetwas wusste, dann würde er es ihm erzählen – dafür würde er schon sorgen. Er suchte sich im Telefonbuch Meinrads Adresse heraus, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und machte sich auf den Weg.
»Da sind Sie ja endlich!«, rief Frau Horsky, als Morell auf den Flur trat. Wie es schien, hatte die alte Dame hinter dem Türspion schon auf ihn gelauert. »Heute Vormittag habe ich sicherlich fünfmal bei Ihnen geläutet, aber keiner hat geöffnet.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich gerade ziemlich viel zu tun habe.«
»Und? Haben Sie schon etwas herausgefunden?«
»Möglicherweise«, nickte Morell. »Wie es scheint, hatten Sie recht: Die Pietät hat wirklich etwas mit dem Verschwinden Ihres Sohnes zu tun.«
Frau Horsky strahlte, trat einen Schritt zur Seite und gestikulierte mit ihrer faltigen Hand wild herum. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Erzählen Sie mir alles!«
Morell schielte auf seine Uhr. Eigentlich wollte er ja zu Johannes Meinrad fahren … »Na gut«, sagte er. »Ein paar Minuten kann ich erübrigen.«
»Setzen Sie sich«, forderte Frau Horsky ihn auf, nachdem sie ins Wohnzimmer getreten waren. »Ich hole Ihnen ein Stück Apfelstrudel – den habe ich extra heute Morgen frisch gebacken.«
»Nein danke«, rief Morell. »Ich habe nicht viel Zeit und bin außerdem auf Diät.«
Frau Horsky musterte ihn, als wäre er nicht mehr ganz bei Trost. »Ein g’scheiter Mann muss ordentlich Fleisch auf den Rippen haben. Außerdem brauchen Sie Kraft und Energie, wenn Sie herausfinden wollen, was mit meinem armen Benedikt passiert ist.« Sie ignorierte seine Widerrede, stapfte in die Küche und kehrte kurz darauf mit einem Teller in der Hand zurück. Darauf lag ein überdimensionales Stück Strudel, das sie mit extra viel Sahne garniert hatte. »Bitte schön.«
»Es tut mir leid, ich werde das nicht essen«, konstatierte Morell, obwohl ihm bereits das Wasser im Mund zusammenlief.
»Papperlapapp! Wenn Sie das nicht essen, muss ich es wegwerfen, und das wollen Sie doch nicht, oder? Also. Guten Appetit.« Sie reichte ihm eine Kuchengabel. »Bevor Sie den nicht aufgegessen haben, lasse ich Sie nicht gehen.«
Je näher er Meinrads Wohnung kam, desto ruhiger wurde er. »Wie komisch«, wunderte er sich. Vor dem Mord an Novak war er so nervös gewesen, dass er tagelang weder richtig schlafen noch ordentlich essen konnte. Allein die Vorstellung, einem Menschen Leid zuzufügen, hatte ihm Albträume und
Weitere Kostenlose Bücher