Zu Grabe
mich leer und dumpf und bezweifle, dass ich jemals wieder meines Lebens froh werde.
Vielleicht finde ich einen Weg, mit dem Geschehenen umzugehen, vielleicht aber auch nicht. Die Zeit wird zeigen, wohin mein Weg mich führt. Meine Aufzeichnungen jedenfalls enden hier.
» NEIN !«, schrie er und blätterte fassungslos um. Nichts. Nichts außer vergilbten, unbeschriebenen Seiten, die ihn mit ihrer Jungfräulichkeit schadenfroh verhöhnten. Verzweifelt blätterte er weiter und ignorierte die Tränen, die ihm vor Wut, Zorn und Enttäuschung in die Augen stiegen. » NEIN !« Novaks misshandeltes Gesicht starrte ihm von jeder Seite entgegen und lachte ihn aus. Es war ein dreckiges, gemeines Lachen, das ihm zu verstehen gab, dass er das eigentliche Opfer war – immer schon gewesen war und immer bleiben würde.
» NEIN !«, schrie er erneut. » NEIN !« Er schmiss das Tagebuch gegen die Wand und fing hemmungslos an zu schluchzen.
»Ein Weiser wird sich nicht um sein Begräbnis kümmern.«
Epikur von Samos
Als Morell nach Hause kam, saß Capelli in der Küche und starrte gedankenversunken auf eine braune Kartonschachtel, die vor ihr auf dem Tisch stand. »Was hast du denn da?«, fragte er von der Küchentür aus.
Die Gerichtsmedizinerin fuhr erschrocken hoch. »Hallo, Otto«, sagte sie und fasste sich ans Herz. »Ich habe gar nicht gehört, dass du hereingekommen bist.«
»Entschuldige. Was ist das?« Er trat in die Küche und begutachtete die Schachtel. »Das ist doch nicht etwa …«
»Doch.« Capelli kratzte sich verlegen am Kopf.
»Aber wie …« Morell setzte sich neben sie. »Wie bist du denn nur …«
»O je«, unterbrach Capelli ihn, fasste sein Kinn, um seinen Kopf zu drehen, und betrachtete die entzündete Wange. »Was ist denn mit dir passiert?«
»Lenk jetzt nicht ab! Darüber können wir später reden. Sag mir erst, wie du an das Ding da gekommen bist. Oder nein, halt!« Er hob abwehrend die Hände in die Höhe. »Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.«
Capelli zog Morell näher zu sich heran, untersuchte die gerötete Stelle und rümpfte die Nase. »Warum riechst du wie eine Barbecue-Sauce?«
»Das erzähle ich dir später. Sag mir lieber, was da drinnen ist.« Er griff nach dem Karton und öffnete den Deckel.
»Tja, wenn ich das wüsste. Ich habe noch nicht alle Unterlagen durchgeschaut, aber das, was ich bisher gelesen habe, ist mir ein totales Rätsel.« Sie zuckte mit den Schultern, griff in die Schachtel und reichte Morell einen Packen Papier.
»Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.« Morell überflog das oberste Blatt:
Os coxae, MCCXVIII , f., 40–45
Os metacarpale secundum, DLIX , m. 60–65
Ulna, MDCCCXCVII , f. 35–40
Ossa digitorum pedis, MDCXXII , m. 20–25
stand dort aufgelistet.
»Die lateinischen Worte heißen übersetzt so viel wie Hüftbein, Mittelhandknochen, Elle und Zehenknochen«, klärte ihn Capelli auf. »Aber was sollen die Zahlen und Buchstaben daneben bedeuten? Und hier«, sie reichte Morell ein anderes Blatt Papier. »Hier geht es um einen Eisennagel LX , eine Daumenschraube MCCCXCIII und Terra Sigillata LXXXV .«
Morell zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ein Code?« Er wollte gerade weiterblättern, als ihm der Briefkopf ins Auge schoss: Wilfried Uhl. »Na so was«, murmelte er. »Der gute Herr Uhl. Von wegen den Vitus seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Du kennst diesen Uhl?«
Morell nickte. »Gib mir bitte eine dieser Listen, ich werde ihn damit konfrontieren – oder nein, ich habe eine bessere Idee. Ich werde erst Leander besuchen und ihn fragen, ob er vielleicht weiß, was das alles bedeutet.«
Capelli nickte. »Gute Idee. Ich bin ja schon sehr gespannt, was es mit der ganzen Sache auf sich hat.«
»Nicht nur du.« Morell kratzte sich. »Was ist das an meiner Wange denn bloß? Ich dachte erst, es handle sich um einen Insektenstich, aber dann hat Ludwig Nagy behauptet, dass die kleinen Viecher unschuldig seien.«
Capelli nickte. »Da hat er recht. Es sieht so aus, als hättest du eine leichte allergische Reaktion.«
»Aber wogegen? Glaubst du, dass es daran liegt, dass ich meine Ernährung umgestellt habe? Kann es sein, dass mein Körper das viele Fett und die vielen Kohlehydrate vermisst?«
»Ich bin zwar keine Dermatologin, aber dieser Ausschlag kommt sicher nicht vom Essen. Hast du mit deiner Wange irgendetwas berührt? Hast du dich vielleicht im Bus oder in der Straßenbahn gegen die Scheibe gelehnt? Denk mal
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