Zu Grabe
nach.« Capelli stand auf, verließ die Küche und kam wenige Augenblicke später wieder zurück.
»Hier«, sie reichte Morell eine kleine Tube. »Das ist ein Cortisongel, das wird den Juckreiz und das Brennen lindern – spätestens morgen ist alles wieder gut.«
Morell dachte nach und wurde plötzlich blass. »Das Einzige, was mir einfällt, ist die Auskleidung des Kennedy-Sarges – die roch ziemlich synthetisch.«
»Kennedy-Sarg?«
»Du wirst nicht glauben, was mir heute in der Pietät passiert ist«, setzte er an, hielt dann aber plötzlich inne. »Warte mal – mir ist da gerade ein Gedanke gekommen.« Er rieb sich geistesabwesend einen Klecks Salbe ins Gesicht. Hatten Jedler und Eschener heute nicht irgendetwas von wegen Gesundheitsamt und Gewerbeaufsicht geredet? Vielleicht war es das. »Theoretisch wäre es doch möglich, dass die Pietät billigen Ramsch aus dem ehemaligen Ostblock oder aus China importiert und hier teuer an trauernde Angehörige verkauft. Du weißt schon: Särge aus behandeltem Holz, schlecht abbaubare Synthetikausstattungen, Urnen aus giftigen Materialien und so weiter – illegal, umweltschädlich und unmoralisch, aber mit einer beträchtlichen Gewinnspanne. Horsky ist ihnen womöglich auf die Schliche gekommen und musste darum verschwinden.«
»Das wäre denkbar«, stimmte Capelli zu. »Und es lässt sich leicht herausfinden, ob du recht hast – wenn du mir Proben besorgst, kann ich sie in unserem Labor analysieren lassen.«
Morell lächelte. »Dann wäre das lästige Jucken heute nicht umsonst gewesen«, sagte er und tätschelte seine Wange. Am liebsten wäre er sofort zur Pietät gefahren, um dort Proben zu beschaffen, aber er durfte jetzt nichts überstürzen. Es war das Vernünftigste, sich erst mal weiter um den Fall Novak zu kümmern. »Mal sehen, was es Neues bei Herrn Payer gibt«, murmelte er und griff zum Telefon.
Es klingelte ein paar Mal, und schließlich nahm der Professor den Hörer ab.
»Hallo, Ernst. Hier spricht Otto Morell. Ich rufe an, weil ich gerne wissen möchte, ob am Tell Brak irgendwann einmal ein bedeutendes Königsgrab entdeckt worden ist.«
»Ein Königsgrab? Nein. Mit Sicherheit nicht. Wie kommen Sie denn darauf?«
»Das erkläre ich Ihnen ein andermal. Wie sieht es denn bei Ihnen aus? Haben Sie irgendetwas Neues herausgefunden?«
»Leider nein. Ich habe mit mehreren Leuten geredet, aber …«
O je, dachte Morell. Das hieß dann wohl, dass Payer wie ein Elefant im Porzellanladen durch die Gegend gestapft war und überall herumposaunt hatte, dass die Grabung am Tell Brak im Zusammenhang mit dem Mord an Novak stand. Er wollte es sich lieber nicht bildlich vorstellen.
»… aber leider konnte mir keiner von denen wirklich weiterhelfen. Ich habe unter anderem auch Mitarbeiter der Universität Cambridge kontaktiert, die jahrelang an den Grabungen in der Gegend teilgenommen haben, und nicht einmal die konnten mir irgendetwas Außergewöhnliches berichten.«
Morell kratzte sich an der Wange. Was hatte Novak gewusst, das sonst keinem bekannt war? Es gab noch zwei Möglichkeiten, es herauszufinden: Johannes Meinrad und Gustaf Harr. Nachdem Bender ihm noch immer nicht die Adresse von Harr geschickt hatte, hieß es nun also auf zu Meinrad.
»Gestern noch auf stolzen Rossen,
heute durch die Brust geschossen.
Morgen in das kühle Grab.«
Wilhelm Hauff, Reiters Morgengesang
Bender stand in seinem Garten und hielt eine große Flasche Baldriantropfen in der Hand. Eine Bekannte hatte behauptet, dass man damit Katzen anlocken konnte, und da er nichts unversucht lassen wollte, um Fred wiederzufinden, goss er die Tinktur jetzt über Büsche und Beete.
Fred war nun schon wie lange weg? Er zählte die Tage an seinen Fingern ab. Fünf. »Verflixt«, fluchte er. Mit jeder Stunde, die verging, schwand seine Hoffnung, den Liebling des Chefs heil wiederzufinden, und damit nicht genug: Er hatte zudem auch noch Probleme, einen von Morells potentiellen Zeugen aufzutreiben.
Normalerweise hätte er einfach die Kollegen in Innsbruck oder Wien angerufen und um Hilfe gebeten, aber da ja alles topsecret war, durfte niemand etwas von der ganzen Sache erfahren. Er war also völlig auf sich selbst gestellt – und somit total aufgeschmissen. Der Chef würde maßlos enttäuscht von ihm sein. Erst Fred, jetzt Harr. Was kam als Nächstes? Wahrscheinlich würden ihm alle Pflanzen eingehen, und dann würde er versehentlich auch noch Morells Haus abfackeln. Er wollte es sich
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