Zu Grabe
Tell Brak im Jahr 1978 erzählen. Und glaub ja nicht, dass du mich anlügen oder mir etwas verschweigen kannst. Ein falsches Wort, eine kleine Ungereimtheit oder Erinnerungslücke, und du bist ein toter Mann.«
»Sie … O, mein Gott … Haben Sie etwa Novak …?«, stammelte Meinrad, dem die Brille mittlerweile wieder richtig auf die nase gerutscht war und dem langsam dämmerte, dass es sich hier nicht um einen einfachen Einbruchdiebstahl handelte.
»Genau. Dein werter Freund war leider nicht besonders kooperativ, und das hat ihn den Kopf gekostet – im wahrsten Sinne des Wortes. Also, sei so schlau und mach nicht denselben Fehler.«
Meinrad, dem der blutbefleckte Bezug plötzlich völlig gleichgültig war, blinzelte und musterte den Mann eingehender, der gerade die Replik einer griechischen Amphore betrachtete. Seine Gesichtszüge kamen ihm irgendwie bekannt vor. »Du liebe Güte«, rief er aus. »Du bist …«
Der Mann drehte sich zu ihm und schaute ihm direkt ins Gesicht. »Genau der bin ich. Und jetzt will ich endlich die Wahrheit hören.«
Meinrad nickte, schloss die Augen und öffnete in seinem Geist eine Tür, die seit mehr als dreißig Jahren verschlossen gewesen war.
Otto Morell fuhr mit der Straßenbahn in den neunten Bezirk und war schon sehr gespannt, ob Meinrad ihm etwas über die Grabung am Tell Brak und das rätselhafte Königsgrab erzählen konnte.
Er stieg an der Haltestelle Schwarzspanierstraße aus und ging die berühmte Berggasse hinunter. Hier hatte Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelt und Theodor Herzl den politischen Zionismus begründet. Doch der Chefinspektor war mit seinen Gedanken ganz woanders, so dass er weder dem Freud-Museum noch Herzls Wohnhaus oder irgendeinem der vielen bunten Geschäfte und Cafés Aufmerksamkeit schenkte. Er stapfte eilig geradeaus und stand bald vor einem großen, fünfstöckigen Jahrhundertwendehaus, dessen Fassade ganz auf Jugendstil getrimmt war: Geschwungene Linien, kleine Erker und dekorative florale Elemente dominierten die Vorderseite des mächtigen Zinshauses und verliehen ihm ein prunkvolles Erscheinungsbild.
Morell suchte aus ungefähr dreißig Namensschildern das von Meinrad heraus, drückte auf den dazugehörigen Klingelknopf und wartete.
Als auf sein Läuten niemand reagierte, versuchte er es erneut – wieder ohne Erfolg. Er überlegte, ob er noch ein bisschen hier warten oder lieber heimgehen und morgen einen zweiten Anlauf starten sollte, als sich eine junge Frau ihm näherte. Sie schob einen Kinderwagen mit einem schlafenden Baby vor sich her und war mit einer Vielzahl von Einkaufstüten beladen. Sie blieb vor der Tür stehen, stellte die Tüten auf den Boden, ließ ihre Handtasche von der Schulter gleiten und suchte nach dem Schlüssel. »Zu wem wollen Sie denn?«, fragte sie neugierig.
»Zu Johannes Meinrad, aber wie es scheint, ist er nicht daheim.«
»Wahrscheinlich reist er wieder einmal in der Weltgeschichte herum. Herr Meinrad ist für viele internationale Auktionshäuser als Berater tätig und darum oft im Ausland.« Sie drückte auf die Klingel und wartete kurz. »Ja«, sagte sie. »Da haben Sie wohl Pech.«
»Schade«, ärgerte sich Morell. »Ich muss wirklich dringend mit ihm reden.«
»Ich bin mir sicher, dass er übermorgen wieder in Wien sein wird«, sagte die Frau. »Er hat mir nämlich versprochen, am Montagmorgen eine Stunde auf den Kleinen aufzupassen, während ich in meiner Pilates-Stunde bin.«
»Früher wäre mir zwar lieber gewesen, aber dann werde ich halt bis Montag warten müssen. Trotzdem vielen Dank.« Morell drehte sich um und machte sich auf den Weg in Richtung Untersuchungsgefängnis.
Meinrad überlegte fieberhaft, wie er es schaffen konnte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Wie viel wusste sein Gegenüber? Sollte er es wagen zu lügen? Oder war sowieso alles egal, da er auf jeden Fall sterben würde? Novaks Mörder hatte sich schließlich nicht die Mühe gemacht, seine Identität zu verbergen.
»Los! Fang an zu erzählen!« Der Mann versetzte ihm einen unsanften Schubser.
»Warte! Es ist so verdammt lange her – ich brauche etwas Zeit, um mich an alles zu erinnern«, log Meinrad, der es noch immer nicht fassen konnte, dass die Vergangenheit ihn nach so vielen Jahren doch noch eingeholt hatte. Er musste Zeit schinden und sich einen Fluchtplan überlegen. »Also«, begann er mit zitternder Stimme, »wir sind damals in einem kleinen Bus nach Syrien gereist. Gestartet sind
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