Zu Grabe
landete aber sofort auf dessen Mobilbox. Sie versuchte es ein zweites Mal – erneut ohne Erfolg. »Hier ist Nina. Ruf mich dringend zurück!«, sagte sie, legte wieder auf und ging zurück in die Wohnung. Dort schenkte sie der Leiche keine Beachtung, sondern steuerte direkt auf das Wohnzimmer zu.
»Frau Capelli«, rief Kern ihr nach. »Alles in Ordnung? Wollen Sie denn gar nicht mit der Leichenbeschau beginnen? Was ist denn los?«
»Ich … ähm … ich bin gleich bei Ihnen«, rief Capelli zurück. »Bereiten Sie schon mal alles vor!« Sie lief ins Wohnzimmer und sah sich um. Genauso wie der Flur war auch dieser Raum voller Statuetten, Reliefs und antiker Bilder. Gut, Meinrad war kein Archäologe gewesen, aber trotzdem war er bereits der zweite Mann, der innerhalb von wenigen Tagen ermordet worden war und etwas mit antiken Dingen zu tun hatte. Sie versuchte noch einmal, Morell zu erreichen, was ihr aber nicht gelang, und schaute sich dann weiter um. Was, wenn Meinrad tatsächlich auf der Liste stand? Eilig schnüffelte sie weiter und schlich ins Schlafzimmer. Neben einem imposanten Wasserbett und einem ziemlich großen Schrank stand dort ein mächtiger Schreibtisch.
Leise öffnete sie eine Schublade nach der anderen und fing an, in deren Inhalt herumzuwühlen. »Hast du oder hast du nicht Archäologie studiert?«, murmelte sie und öffnete die unterste Schublade. »Interessant.« Hinter einem Stapel Rechnungen, ganz hinten in der Lade, befand sich ein kleines Holzkästchen. Sie nahm es heraus und betrachtete es genau: Es war aus dunklem Holz gefertigt, rundherum mit feinen Schnitzereien verziert und hatte an der Vorderseite ein kleines, silbernes Schloss. Capelli wollte es öffnen, musste aber feststellen, dass es zugesperrt war. Sie wühlte in der Schublade nach dem Schlüssel, konnte ihn aber nicht finden. Sie versuchte es in den anderen Laden, aber auch dort fehlte jede Spur von dem Schlüssel. Was wohl in dem Kästchen war, dass Meinrad es weggesperrt und in den hintersten Untiefen seines Schreibtisches versteckt hatte? Sie kam nicht weiter dazu, sich Gedanken zu machen, da sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich vernahm.
»Frau Capelli. So schnell sieht man sich wieder.«
Der Gerichtsmedizinerin blieb beinahe das Herz stehen – es war Weber. Nachdem sie die erste Schrecksekunde überstanden hatte, dankte sie Gott dafür, dass ihr Schutzanzug so weit war, steckte das Kästchen hinein und drehte sich langsam um. »Herr Weber«, sagte sie und versuchte, unschuldig dreinzuschauen. Mit ihrem linken Bein schob sie vorsichtig und so unauffällig wie möglich die Schublade zu.
»Wie es scheint, überschreiten Sie schon wieder einmal Ihre Kompetenzen. Oder warum, wenn ich fragen darf, schnüffeln Sie an meinem Tatort herum? Die Leiche liegt vorne im Flur. Alles andere hat Sie nicht zu interessieren.«
»Tut es auch nicht«, log Capelli, presste das Kästchen eng an ihren Bauch und hoffte, dass es nicht auffiel. »Es ist nur so, dass ich gerade angerufen wurde und ein ruhiges Plätzchen zum Telefonieren brauchte.« Sie grinste verlegen.
»Na, jetzt aber raus hier«, brummte Weber.
»Bin schon weg.« Capelli schlängelte sich an ihm vorbei und ging in den Flur zu dem Toten. Als sie sich hinkniete, drückte das Kästchen unangenehm in ihren Unterbauch.
»Alles in Ordnung?« Kern war der verkniffene Gesichtsausdruck von Capelli nicht entgangen. »Tut Ihnen was weh?«
»Schon gut«, winkte Capelli ab und fing mit der Leichenbeschau an. »Ich habe nur ein bisschen Muskelkater vom Joggen.«
»…, denn er muß verschwiegen sein wie das Grab,
ob er nun will oder nicht.«
Giovanni Boccaccio, Das Dekameron
Eine gute Stunde später hatte Morell noch immer keinen Weg gefunden, sein Gefängnis zu verlassen. Die Kälte war mittlerweile unerträglich, und er fürchtete langsam wirklich, dass er hier drinnen erfrieren könnte.
Wo waren denn nur die anderen? Warum war noch keinem von ihnen aufgefallen, dass er verschwunden war? Oder war an der bösen Ahnung, dass Eschener und Jedler ihn entlarvt hatten und nun einen ›bedauerlichen Unfall‹ inszenierten, tatsächlich etwas dran?
Er hätte sich nie so völlig unvorbereitet auf diese Undercover-Aktion einlassen dürfen. »Kein Gejammer, keine Schwäche«, rief er sich ins Gedächtnis. Für Reue und Selbstvorwürfe blieb später noch genug Zeit – jetzt musste er erst mal dafür sorgen, dass diese Kühlkammer nicht zu einem kalten Grab für ihn wurde.
Er
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