Zu Grabe
Geschehene zu analysieren und immer wieder zu durchdenken. Es galt zu akzeptieren, was passiert war, und nach vorn zu schauen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren und sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Sich auf das besinnen, was wirklich zählte – und das war das Geheimnis. Er musste endlich erfahren, was vor dreißig Jahren wirklich passiert war, und Gerechtigkeit walten lassen.
Er nahm das Foto, auf dem nun auch Meinrads Gesicht mit einem schwarzen Kreuz ausgestrichen war, und betrachtete es. Wen sollte er sich als Nächstes vornehmen? Sein Zeigefinger fuhr über das Bild und deutete auf ein Gesicht.
Er drückte seine Zigarette in dem mittlerweile vollen Aschenbecher aus und griff zum Telefonbuch, um die Adresse seines nächsten Opfers nachzuschlagen.
»Betritt der Alten sich’re Wege!
Ein Feiger nur geht davon ab.
Er suchet blumenreich’re Stege
Und findet seines Ruhmes Grab.«
Gotthold Ephraim Lessing
Morell zog an der Tür der Kühlkammer. Sie musste zugefallen sein, als er den toten Mann auf seinen Übernachtungsplatz geschoben hatte. Aber warum ließ sie sich jetzt nicht mehr öffnen? Ein Anflug von Panik durchfuhr ihn. Er rüttelte so stark an der Klinke, dass es ein Wunder war, dass sie nicht abbrach. »Okay, jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Ruhig bleiben«, redete er sich selbst gut zu. Er zog noch einmal an der Klinke – aber nichts. Die schwere Stahltür mit dem kleinen Sichtfenster bewegte sich keinen Millimeter.
»Hallo!« Morell schlug gegen die Tür. »Hallooo! Sebastiaaan! Herr Escheneeer! Frau Summeeer!« Irgendwer musste doch noch hier sein. »Hiiilfeee!« Morell schrie und klopfte, bis ihm die Puste ausging, doch so wie es aussah, konnte keiner ihn hören. »Kein Gejammer, keine Schwäche«, sagte er und holte sein Handy aus der Hosentasche. »Du rufst jetzt einfach oben an, und in wenigen Augenblicken wird Frau Summer dich hier rausholen!«
»Schei…!« Der Chefinspektor starrte entgeistert auf das Display seines Mobiltelefons. Er hatte keinen Empfang. Die Lage im Keller, die schwere Metalltür und die massiven Kühlaggregate hemmten jegliches Signal. Morell schaute durch das kleine Fenster, versuchte die Leichen hinter sich auszublenden und nachzudenken, aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er war gefangen in einem Raum, in dem starr und kalt ein paar tote Menschen lagen.
Langsam spürte er nun die Kälte, die in dem Raum herrschte. Durch den Schreck hatte er sie bisher noch nicht bemerkt, aber jetzt fing die eisige Kühle an, in seine Knochen zu kriechen. Er sah sich nach etwas Wärmendem um. Das Einzige, was er entdeckte, waren Leichentücher. Nein, so verzweifelt war er noch nicht. Er begann auf und ab zu hüpfen und seine Arme kreisen zu lassen. Das tat er so lange, bis er sich wieder etwas wärmer fühlte. Erneut starrte er durch das Sichtfenster nach draußen. Wo waren die denn nur alle? Warum kam denn keiner hier vorbei?
Morell hörte ein Geräusch hinter sich und schreckte hoch. Was war das? Er drehte sich um. Wahrscheinlich war es nur das Knacken der Kühlanlage oder ein Hirngespinst, aber in seinen Ohren hörte es sich wie der Klang aus einer anderen Welt an. Fürchterliche Bilder aus sämtlichen Gruselfilmen, die er jemals gesehen hatte, standen ihm vor Augen. Und als wäre das noch nicht genug, fing nun auch noch das Neonlicht an zu flackern. Morells Nerven, die so oder so schon blank lagen, waren kurz davor, sich vollkommen zu verabschieden. »Haaallooo! Hiiilfeee!« Er schlug erneut mit seinen Fäusten gegen die Tür. Warum ließ sie sich denn nicht öffnen? Hatte ihn jemand mit Absicht hier eingesperrt? Hatten Eschener und Jedler etwa herausgefunden, wer er wirklich war, und versuchten nun, ihn aus dem Weg zu schaffen? So, wie sie es offensichtlich auch mit Benedikt Horsky getan hatten? Würden sie ihn heute Abend hier abholen – blaugefroren und mausetot?
Morell spürte, wie ihm vor lauter Panik ganz übel wurde. Wie lange konnte er hier drinnen überleben? Er schielte auf seinen Bauch – das Fett würde ihn zumindest eine Zeitlang vor dem Erfrieren schützen. Was für eine Ironie des Schicksals, dass er die letzten Tage damit verbracht hatte, genau dieses Fett loszuwerden. Er schlang die Arme um seinen Körper und bibberte leise vor sich hin. Er musste irgendwie ganz schnell hier rauskommen.
»Die Lüge folgt uns noch hinab ins Grab.«
Giovanni Battista Niccolini
Nina Capelli, die heute ihren ersten offiziellen Arbeitstag
Weitere Kostenlose Bücher